top of page

Föderalismus – Chance für Deutschland

von Philipp Eng



Machtkontrolle, Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit: Ein Staatswesen beschränkt auf seine Kernkompetenzen und gelebte Konkurrenz der Systeme sind Werte der liberalen DNA. Sie alle vereinen sich in einer föderalistischen Staatsordnung. Im Folgenden möchte ich darüber sprechen, was Föderalismus in Deutschland im Vergleich zur Schweiz bedeutet und welche Learnings ein liberal denkender Mensch daraus allenfalls mitnehmen kann.


Föderalismus in Deutschland – de iure und de facto?


Das Grundgesetz Deutschlands ist – wie der Name schon sagt – die grundlegende Rechtsquelle des deutschen Rechtsstaates. Im Grundsatz spricht sich das Grundgesetz an verschiedener Stelle für einen ausgeprägten föderalistischen Staat mit stark basisdemokratischer Prägung aus. In Artikel 30 des Grundgesetzes und damit direkt nach den Grundrechten steht wörtlich geschrieben: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“ Des Weiteren wird in Artikeln 70 und 83 des Grundgesetzes weiter auf die grundföderalistische Struktur Deutschlands Bezug genommen.

Rechtlich gesehen werden somit jegliche Staatsaufgaben grundsätzlich den Ländern zugewiesen, sofern keine Gesetzgebungskompetenz zugunsten des Bundes besteht. Die Regelung deckt sich somit mit dem Grundsatz der Schweizerischen Bundesverfassung in Artikel 3: Die Kantone „üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.“ Damit ist auch das Prinzip der Subsidiarität festgeschrieben. Aufgaben sind politisch jeweils nur einem höheren Gemeinwesen zu übertragen, wenn sich dies aufgrund des konkreten Regelungsgegenstandes aufdrängt.

Wie jedoch so oft korrespondiert die Vorstellung, welche ein Rechtstext suggeriert, auch hier nicht ganz mit der realen Situation; in Deutschland genauso wenig wie in der Schweiz. Föderalistische Grundstrukturen erodieren, Krisen führen zu mehr zentralistischer Führung und politischer Einfluss weckt oftmals den Wunsch nach mehr Kontrolle auf höchster Staatsebene. Föderalismus ist ein Machtbruch für amtierende Politiker der höchsten Staatsstufe. Es ist verlockend, der Bevölkerung eine starke zentralistische Politführung zu präsentieren und sich als Ausweg aus der Krise darzustellen. Die Gemeinden und Bundesländer verkommen damit zur reinen ausführenden Verwaltungsinstanz ohne effektive Einflussnahme auf die relevante Rechtsetzung. Dieser Verlockung gilt es als Liberale zu widerstehen.


Zentralistische Tendenzen in der Schweiz

Auch in der Schweiz sind klare Tendenzen zu mehr Zentralismus auszumachen. Oftmals hört man den abschätzigen Ausdruck „Kantönligeist“ in der Schweiz, was so viel bedeutet wie die abwertende Haltung gegenüber den teils sehr unterschiedlichen Systemen unter den Kantonen. Zugegeben, wenn während der Corona-Pandemie ein Geschäft nur mit Maske betreten werden kann, eines fünf Autominuten entfernt keine solche Pflicht vorsieht, ist dies nicht der große Erfolgsmoment föderalistischer Staatsstrukturen. Andererseits gibt es diverse Regelungsbereiche, welche die Kantone der Schweiz (die gleiche föderale Stufe wie die Bundesländer in Deutschland) von Gesetzes wegen an den Bund abtreten müssen. Noch krasser ist die Entwicklung, dass Gemeindekompetenzen direkt an den Bund abgegeben werden müssen, wie dies nach der Referendumsabstimmung zur Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation der Fall war.


Schweizer Föderalismus – kurz erklärt!


Doch wie funktioniert der schweizerische Föderalismus überhaupt? Wie äußert er sich in der Strukturierung und Rollenverteilung unter den einzelnen Staatsebenen? Ich möchte die Funktion des schweizerischen Föderalismus anhand einiger Grundprinzipien und Spezifika kurz umreißen.

Ständerat:

Die schweizerische Legislative besteht aus zwei gleich berechtigten Kammern, welche an der Gesetzgebung mitwirken. Nur die Zustimmung beider Kammern ermöglicht den Erlass eines Rechtsaktes. Der Nationalrat setzt sich proportional zur Bevölkerungsgröße eines Kantons zusammen und umfasst 200 Mitglieder. Der Ständerat besteht aus 46 Mitgliedern – aus zwei Ständeräten pro Kanton und einem Ständerat pro Halbkanton. Aufgrund dieser gleichmäßigen Sitzverteilung im Ständerat, hat jeder Kanton dasselbe Gewicht in der Gesetzgebung – ungeachtet der Größe des Kantons. Der Ständerat dient damit als Korrektiv der kleineren Kantone gegenüber der einwohnermäßig größeren und verhindert, dass die bevölkerungsstarken Kantone die kleineren gesetzgeberisch auf Bundesebene übersteuern.

Ständemehr:

Bekanntlich kennt die Schweiz das direktdemokratische Element der Volksinitiative. Gemäß Artikel 139 Bundesverfassung (BV) bedarf es 100.000 Unterschriften von Schweizerinnen und Schweizern innert 18 Monaten, um unsere BV abzuändern. Inhaltlich kann dies grundsätzlich jeden Regelungsbereich betreffen. Kommen die entsprechenden Unterschriften gültig zustande, stimmt das Volk über die Vorlage ab. Bei Volksinitiativen (anders bei Gesetzesreferenden, welche lediglich der Mehrheit der Stimmberechtigten bedürfen, um die Rechtskraft eines Erlasses definitiv zu hemmen) ist erforderlich, dass ihr nicht nur die Mehrheit der Stimmberechtigten, sondern auch die Mehrheit der Stände (also der Kantone) zustimmen. Lehnen folglich mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten in mehr als 13 Kantonen der Schweiz eine Volksinitiative ab, gilt sie als abgelehnt, selbst wenn sie die Mehrheit der Stimmberechtigten der Schweiz erreicht hätte.


Auch dieses Element schafft ein Korrektiv der kleinen Kantone gegenüber der stimmberechtigten Mehrheit der Schweiz. Einer „Diktatur der Mehrheit“ wird somit ein weiterer Riegel vorgeschoben.


Standesinitiative und Kantonsreferendum:

Gleich wie die stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizern haben die Kantone die Möglichkeit, eine Initiative (auf Änderung der BV) oder ein Referendum (Verhinderung resp. Blockierung eines Bundesgesetzes oder der Anpassung eines Bundesgesetzes) zu ergreifen und damit aktiv an der Gesetzgebung des Bundes mitzuwirken oder korrigierend einzugreifen. Beides geschieht sehr selten. Nichtsdestotrotz können die Kantone dadurch notfalls Beschneidungen ihrer Autonomie entgegenwirken.


Vernehmlassungen und Mitwirkung:

Auf allen Staatsstufen in der Schweiz besteht eine hohe Mitwirkungsmöglichkeit im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens. Vor dem Erlass eines Gesetzes, einer Verordnung oder beispielsweise eines Planes in der Raumplanung steht es sowohl Parteien als auch Gemeinden, Kantonen und Einzelpersonen offen, zu den geplanten Änderungen Stellung zu beziehen. Eingaben haben zwar keine rechtliche Bindungswirkung, doch wirken sie aufgrund der später möglichen direktdemokratischen Mittel (wie beispielsweise das Gesetzesreferendum) hemmend, wenn sich entsprechender Widerstand gegen Gesetzgebungsvorhaben formiert.


Konkrete Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden:

Das eigentliche Kernstück des schweizerischen Föderalismus ist die klare Kompetenzverteilung bei den öffentlichen Aufgaben und in der Rechtsetzung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Im Grundsatz sind die Kantone überall dort zuständig, wo der Bund keine Regeln erlassen darf (der Bund darf nur Regeln erlassen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung und die Mehrheit der Kantone im Rahmen einer Volksabstimmung dem zugestimmt haben). Die Gemeinden wiederum dürfen überall dort eigene Regeln aufstellen, wo der Kanton von seinen Rechtsetzungsbefugnissen keinen Gebrauch macht oder ihnen explizit Rechtsetzungsbefugnisse zuweist.

Um einige Beispiele zu nennen: So können Gemeinden in der Schweiz ihre eigenen Steuersätze bestimmen, welche von Dorf zu Dorf unterschiedlich sein können und es grundsätzlich auch sind. Gemeinden sind zuständig für die Orts- und Raumplanung, die Organisation der Schulen und der Ausrichtung der Sozialhilfe (analog zum „Bürgergeld“ aus Deutschland).


Die Kantone übernehmen die koordinative Organisation des Kantons; sie bestimmen die Höhe der kantonalen Steuern zur Abgeltung der kantonalen Aufgaben; sie haben die Hoheit über die Bildung, erlassen Lehrpläne und schließen Vereinbarungen, sogenannte Konkordate mit rechtsetzendem Charakter, mit anderen Kantonen ab.


Dem Bund kommen ausschließlich jene Kompetenzen zu, welche ihm durch die Bundesverfassung zugewiesen werden. Er regelt beispielsweise die Armee, das Asylwesen und den Bezug von Bundessteuern.


Vorteile des (Schweizerischen) Föderalismus

Nachdem die Funktionsweise des Schweizerischen Föderalismusgedanken grob skizziert wurde, stellt sich nun die Frage, inwiefern diese ausgeprägte Form des Föderalismus einen wirklichen Mehrwert bietet und wie weit es sich vielleicht doch nur um „Kantönligeist“ handelt, welcher eher Traditionen und Gewohnheiten, als wirklich in dieser Intensität einer Notwendigkeit entspricht.


Konkurrenz der Systeme:

Als Liberale stehen wir ein für Wettbewerb. Föderalismus ist im Grundsatz ein Wettbewerb der Systeme. Wer als Kanton oder als Gemeinde effizienter, günstiger, schneller, besser und attraktiver ist, gewinnt das Rennen um den Steuersitz einer natürlichen oder juristischen Person. Der Umstand beispielsweise, dass in der Schweiz jede Gemeinde ihren eigenen Steuersatz für juristische und natürliche Personen autonom festlegen kann, führt dazu, dass sich jeweils die besten administrativen und staatsorganisatorischen Systeme durchsetzen und die anderen Gemeinwesen nachziehen. Dieser Wettbewerb verhindert Stillstand und fördert eine Konkurrenz, welche es sonst in Staatsgefügen nicht gäbe, da Bürgerinnen und Bürger anders als auf freien Märkten ihr Gemeinwesen nicht auswählen können.

Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern:

Die Allokation von Gesetzgebungskompetenzen auf die tiefst mögliche Staatsstufe ermöglicht das höchste Maß an Bürgernähe. In zentralistischen Staaten werden die Stimmen einzelner Bürgerinnen und Bürger nicht gehört, weil ihre Anliegen üblicherweise nicht dringlich genug erscheinen, dass sich ein Zentralstaat damit befassen würde. Das Gegenteil gewährleistet ein ausgeprägter Föderalismus, in welchem jede Stufe des Gemeinwesens ihre eigenen Aufgaben kennt und sich den entsprechenden Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger annimmt. Nur föderalistische Strukturen ermöglichen es, dass sich ein besorgter Bürger oder eine besorgte Bürgerin beim Gemeinderat melden kann, weil er nachts durch eine zu helle Straßenlaterne wachgehalten wird.

Effizienz und Aufgabenteilung:

Das Streben nach unten, was die Gesetzgebungskompetenzen und Aufgabenteilung anbelangt führt dazu, dass Staatsaufgaben dort erledigt werden, wo die Behörden die konkreten Umstände und Verhältnisse am besten kennen. Dadurch wird die effizienteste Form der Aufgabenerfüllung gewährleistet. Probleme in den eigenen Regelungskompetenzen werden schneller erkannt und mit situativ sinnvollen Lösungen angegangen.

Kosten:

Mit gesteigerter Effizienz sinken die Kosten. Dies ist allerdings nicht der einzige Kostendämpfer: Durch einen ausgeprägten Föderalismus mit starken Mitsprachemöglichkeiten der Bevölkerung (an Gemeindeversammlungen sind alle Stimmberechtigten antrags- und mitspracheberechtigt und bestimmen auch über den Steuersatz der Gemeinde) besteht eine Kontrollinstanz, welche die Staatsaufgaben und -ausgaben kritisch überwacht und die Kosten somit im Rahmen hält.


Mitsprache und Knowhow:

Föderalismus bedeutet in vielerlei Hinsicht Basisdemokratie. Durch die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger auf der tiefsten und somit nächsten Staatsstufe erfolgt auch ein wesentlicher Knowhow-Austausch. Nicht nur werden Entscheidungen der Politik einfacher verstanden und bürgernah erklärt, auch können sich Bürgerinnen und Bürger ohne politisches Mandat direkt in die Entscheidungsfindungen mit ihrem Wissen und ihrer persönlichen Spezialisierung einbringen. Es entwickelt sich ein stärkeres „Miteinander“, was zum einen Verständnis für politische Entscheidungen weckt und es zum anderen ermöglicht, die Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger einzubringen und sie vor Entscheidungen anzuhören.


Übereilungsschutz:

Föderalismus und Basisdemokratie sind langsam und schwerfällig. Sie erfordern zahlreiche Vernehmlassungen und den Einzug unterschiedlicher Staatsstufen, was das ganze System träge erscheinen lässt. Das ist es grundsätzlich auch. Allerdings wirkt dieser Umstand als Übereilungsschutz – nicht selten werden Systeme und ‚Lösungen‘ von anderen Staaten oder Gemeinwesen kopiert. Und damit auch deren Fehler übernommen und wiederholt. Föderalistisch gewollte Ineffizienz ermöglicht, dass man aus früheren Fehlern lernen und diese verbessern kann.


Föderalistische Zukunftsvisionen für Deutschland


Die Stärkung des Föderalismus ist Stärkung Deutschlands. Es gibt zahlreiche Argumente, wieso basisdemokratischer und föderalistischer Einbezug aller Staatsebenen Vorteile in diverser Hinsicht bringt.


Durch den stärkeren Einbezug der Bevölkerung in politische Entscheide aufgrund föderaler Strukturen wird mehr Verständnis für die Politik geschaffen. Radikalisierungen wie jene der AfD kann damit teilweise entgegengewirkt werden. Populistische Parteien agieren oft mit der Rhetorik, die Politik mache ja sowieso, was sie wolle.


Die steigende Staatsverschuldung Deutschlands kann gedrosselt werden, indem durch mehr Föderalismus die Effizienz gesteigert und die Kostenkontrolle der Bürgerinnen und Bürger ausgeweitet wird.


Deutschland kann zur föderalistischen Vorzeigedemokratie in der EU avancieren und ein Vorbild für föderale Strukturen innerhalb der Staatengemeinschaft bilden. Konkurrenz der Systeme ist in der heutigen Zeit wichtiger geworden denn je. Liberale Staatskonstrukte geraten immer stärker unter Beschuss. Es ist daher zentral, dass illiberale Tendenzen nicht als einzige Lösungen für die aktuellen Krisen bestehen, sondern dass sich liberale Erfolgsmodelle im Wettbewerb durchsetzen können.


Deutschland muss daher mehr Föderalismus wagen.

 

Philipp Eng, Jahrgang 1995, ist International Officer der Jungfreisinnigen Schweiz, Co-Founder und Geschäftsführer des Schweizer Social Media Consultancy „BeVisible“. Seit Februar 2023 ist er Rechtsanwalt. Er studierte 2014 bis 2019 an der Universität Bern, wo er seinen Master in Rechtswissenschaften ablegte und sich auch im Studentenrat engagiert. Bereits mit 18 übernahm er politische Verantwortung auf kommunaler Ebene.


bottom of page