top of page

Der postsowjetische Denkmalsturz in der Ukraine

Ikonologisches Streben nach Freiheit

von Danny Marlon Meyer


Ikonoklasmus“ bezeichnet die Zerstörung von Bildern oder Denkmälern von religiöser, kultureller oder politischer Relevanz. Diese Bilderstürme sind Ausdruck von Bildfeindlichkeit in einer Kultur, Religion oder Institution. Ikonoklastische Akte existierten zu jeder Zeit. Denkmalstürze ereignen sich zudem im Rahmen von Umstürzen politischer Verhältnisse und Revolutionen, aber auch infolge kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Gegebenheiten, die zu Paradigmenwechseln in der Rezeption von und im Umgang mit Denkmälern führen.


Verabschiedung des Lenin-Kults


Zahllose ikonoklastische Akte gegen den ehemaligen sowjetischen Machthaber Lenin ereigneten sich in der Ukraine im Rahmen der Dekommunisierung. Wie Lenin-Monumente aus dem Land verschwanden, reflektiert die Herausforderungen zweier unterschiedlicher, diametral zueinander verlaufender, Narrative – die sowjetische Erfahrung und der Staatsbildungsprozess der unabhängigen Ukraine.


Bezogen auf die zugrundeliegende Ideologie war der Lenin-Kult mit 5.500 Denkmälern in der Ukraine nicht weniger widerstandsfähig als in Sowjet-Russland. Mehr als zwei Jahrzehnte brauchte es für Veränderungen in der ukrainischen Erinnerungspolitik bezüglich des sowjetischen Erbes hin zu einer postsowjetischen Identität. Der demonstrative, zelebrierte Abriss von Lenin-Statuen Ende des Jahres 2013 und im Jahr 2014 – ein Phänomen, das als „Leninopad“ in die Geschichte einging – wurde zur bekanntesten ikonoklastischen Bewegung in der Ausrottung des öffentlich sichtbaren sowjetischen Erbes bei gleichzeitiger Erschaffung einer Politik der Erinnerung an jenes sowjetische Erbe.

Während der sowjetischen Periode penetrierte der Lenin-Kult jeden Aspekt des Lebens. Sein Abbild in Form von Portraits und Monumenten dominierte zahllose öffentliche Orte. Lenin war allgegenwärtig. Nachdem dieser an die Macht innerhalb der Kommunistischen Partei kam, verlor er jegliche menschlichen Charakteristika in der öffentlichen Wahrnehmung und wurde zum politischen Symbol stilisiert. Das zeigt sich unter anderem in der Verwendung des politischen Pseudonyms „Lenin“ zu seinem Patronym „Il´ich“. Sein Mausoleum sowie zahlreiche Monumente tragen ausschließlich die Inschrift „Lenin“ als Referenz zum politischen Regime und zur bolschewistischen Revolution, nicht jedoch zur Person. Die ideologische Bedeutung der Lenin-Denkmäler wurde mit Ritualen und Zeremonien, wie dem Niederlegen von Blumen, dem Hissen der Flagge und Reden vor dem Monument untermalt.


Verschiedene Phasen zur Verdrängung Lenins aus dem öffentlichen Raum

Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann 1989 die Reinigung der postsozialistischen Städte von den sowjetischen Monumenten mit dem Ziel einer Hinwendung zu Europa. In den frühen 1990er Jahren wurden Lenin Statuen nahezu ausschließlich in der westlichen Ukraine entfernt, wo die antisowjetische, antikommunistische Bewegung besonders stark und die Bevölkerung überzeugter war, die Symbole sowjetischer Macht zu zerstören. Im Rest der Ukraine blieben der Großteil der Monumente an Ort und Stelle – bis zum Euromaidan 2013 und 2014.

Die Monumente wurden als offensichtlichste und sichtbarste Elemente des sowjetischen Kulturerbes zunehmend zerstört, während die ukrainische Führung nicht nur politisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit Russland verbunden bleiben wollte, sondern auch die Sphäre der Erinnerungskultur zu bewahren versuchte. Der ehemalige ukrainische Präsident Viktor Yanukovych unterstützte ausdrücklich den Erhalt der Lenin Statuen. Sein Preservationismus trug im Zuge von Protesten gegen die Regierung im November 2013 in Kiew wesentlich zur massenhaften Vernichtung der Statuen bei.


Als im Dezember 2013 die wohl prominenteste Lenin-Statue in Kiew vom Sockel gerissen wurde, handelte es sich um den ersten ikonoklastischen Akt vor großem Publikum und mit erheblicher Symbolwirkung seit dem Beginn der 1990er Jahre. Bis Ende Februar 2014 wurden 376 Lenin-Monumente als Protest gegen die Regierung und als Unterstützung für die Euromaidan-Bewegung entfernt. So wurde die Entfernung der Monumente der bolschewistischen Symbolfigur Lenin selbst zum Symbol.


Destruktion ungewünschter politischer Symbolik


Nicht nur ein Symbol für eine Entscheidung zum Umgang mit dem sowjetischen Erbe, sondern ein Symbol für die Euromaidan-Proteste – Proteste gegen die Erklärung des Präsidenten, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnen und damit eine politische Wendung westwärts verhindern zu wollen. Die Lenin-Monumente symbolisierten zu sehr die Bande zwischen Russland und dem Yanukovych-Regime, das sich für die Erhaltung von Denkmälern aus der sowjetischen Ära einsetzte. In der Folge wurden zwischen der Mitte des Jahres 2015 und dem Ende des Jahres 2016 insgesamt 1.320 Lenin-Monumente von ukrainischem Staatsgebiet entfernt.

Der Fall der Lenin-Denkmäler fällt in ein gängiges Muster der Destruktion politischer Monumente, die aus der Abschaffung eines politischen Regimes resultiert, das diese Erinnerungsobjekte installierte. Der gravierende Unterschied besteht im Zeitpunkt, da die massenhafte Entfernung erst lange nach dem Zusammenbruch des Regimes erfolgte. Die Tatsache, dass diese Denkmäler in der unabhängigen Ukraine überlebt haben, legt die Komplexität der sowjetisch-ukrainischen Erfahrung und der Beziehung zur sowjetischen Vergangenheit offen.


Im Gegensatz zu den baltischen Staaten verschwand das sowjetische Erbe nicht einfach, sondern wurde in die kulturelle Landschaft der postsowjetischen Ukraine eingebettet und mit neuen Narrativen verknüpft. Lenin-Monumente verloren keineswegs an Bedeutung im Zuge der ukrainischen Unabhängigkeit. Im Gegenteil: sie erhielten eine neue Bedeutung, die zuerst zu deren Bewahrung, später zu deren massenhafter Entfernung führte. Dementsprechend kann insbesondere von einem Paradigmenwechsel in der Rezeption gesprochen werden, wobei die öffentliche Meinung keinen statischen Zustand, sondern eine diskursive Praxis darstellt.


Auslöschung der Geschichte

Die öffentliche Meinung zum Leninfall veränderte sich zwischen 2015 und 2017. Zwei Befragungen ergaben, dass 19,4 Prozent respektive 16,4 Prozent der Bevölkerung Lenin unter die drei wichtigsten Persönlichkeiten wählten. Lenin wurde zwar weniger wichtig, jedoch auch weniger negativ als Stalin bewertet. Im Jahr nach dem Lenin-Fall verschlechterte sich dessen öffentliche Reputation zunehmend, während der Eindruck seiner historischen Relevanz nur wenig nachließ. Fast 60 Prozent der Befragten gaben 2013 an, die Bewahrung der Lenin Denkmäler nicht zu unterstützen. Die Einwohner der westlichen ukrainischen Regionen vertraten in größerer Vehemenz die Auffassung, sowjetisches Erbe aus der Öffentlichkeit zu eliminieren. Als häufigstes Argument zur Bewahrung wurde der historische Wert angeführt. Die Zerstörung käme einer Auslöschung der Geschichte gleich. Die ukrainische Regierung war nicht in der Lage, eine geeinte und kohärente Vision sowjetischen Erbes in der unabhängigen Ukraine zu erschaffen, weil eine nationale Identität noch nicht geschaffen werden konnte und die Bevölkerung zudem die sowjetische Vergangenheit ambivalent evaluierte.


Lenin gilt als Symbol für die bolschewistische Revolution und Vater des Kommunismus im kollektiven Gedächtnis sowie in der öffentlichen Wahrnehmung. Erst im Zuge des Systemwechsels und der drängenden Frage nach dem Umgang mit dem sowjetischen Erbe und der postsowjetischen Erinnerungskultur geriet er in ikonoklastischer Weise unter Beschuss. Die russischen Aggressionen gegenüber der Ukraine, die Annexion der Krim 2014 und der Angriffskrieg 2022 als Höhepunkt imperialistischer Bestrebungen Russlands hat alte Wunden der gemeinsamen Vergangenheit wieder aufgerissen und dazu geführt, dass eine größere Distanz zur gemeinsamen Historie und damit auch zur geteilten Symbolik geschaffen wurde. Ikonoklastische Akte sind Angriffe auf teils nationale, in jedem Fall jedoch identitätskonstitutive Elemente, die der diskursiven Verhandlung unterliegen. Im Fall der Ukraine wurde eine Befreiung von der Symbolik des kommunistischen Erbes vollzogen.


Denkmäler der sowjetischen Ära werden sukzessive zerstört und durch solche ersetzt, die den ukrainischen Widerstand, die Bestrebungen nach Freiheit, Demokratie und einer westlichen Orientierung widerspiegeln. Manche bleiben physisch erhalten, werden aber rekontextualisiert: Der „Bogen der Völkerfreundschaft“ in Kiew, ein Regenbogen aus unbemaltem Titan mit einem Durchmesser von 60 Metern, diente bis ins Jahr 2022 als Denkmal der Freundschaft zwischen den „Brudervölkern“. Im Zuge des russischen Überfalls wurde dieser zum „Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes“ umgedeutet und umbenannt. Durch diesen Paradigmenwechsel hin zu einer gestärkten ukrainischen Identität wurde nicht das physische Denkmal gestürzt, sondern das Objekt im Zuge der Umwidmung hinsichtlich seines symbolischen Gehalts transformiert. Ein symbolischer Akt der Befreiung, obgleich ein ikonoklastischer. Der Umgang mit politisch und gesellschaftlich streitbaren Denkmälern wird in einer offenen Gesellschaft auch zukünftig diskursiv verhandelt werden müssen. Die polarisiert geführte Debatte um das Wie wird jedoch andauern.


 

Danny Marlon Meyer ist 25 Jahre alt, Ombudsperson des Bundesverbands Liberaler Hochschulgruppen und Mitglied im Verband Liberaler Akademiker. Nach dem Bachelorabschluss in Kunstgeschichte und Kulturmanagement begann er das Master-Studium der „Historisch orientierten Kulturwissenschaften“ an der Universität des Saarlandes, wo er als Vorsitzender des Studierendenparlaments hochschulpolitisch aktiv ist. Sein fachlicher Fokus liegt auf dem Denkmalschutz, der ikonoklastischen Dekonstruktion, Transformation und Rekontextualisierung von Denkmälern.

bottom of page