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EDITORIAL PRÄSES

Liebe Leserinnen und Leser,

ich bin müde, krisenmüde. Und damit meine ich nicht, dass ich keine Lust habe, (globale) Herausforderungen anzugehen. Es ist mir dabei auch egal, in welchem Bereich diese Herausforderungen zu Tage treten: Klima, Umwelt, Einwanderung, Demographie, Sicherheitspolitik, Naher Osten, um nur einige (sehr aktuelle) Beispiele zu nennen. Ja, die Herausforderungen sind zahlreich, ihre Zahl und ihre Größe schrecken mich aber nicht. 

Mich ermüden jedoch die immer gleichen Reflexe seit teilweise Jahrzehnten, seien sie rein rhetorisch oder in politischem Handeln mündend. Mich ermüdet die Mutlosigkeit von Politikerinnen und Politikern. Mich ermüden die Hinhalte- und Salamitaktiken, die wir allerorts erleben. Mich ermüdet der Unwille zu klarem, eindeutigem Handeln. Mich ermüden die immer gleichen Sonntagsreden, bei denen nichts als warme und/oder warnende Worte herumkommt. Mich ermüdet, wie politisches Fehlverhalten allzu oft folgenlos bleibt. Mich ermüden Doppelmoral, Lügen und Schamlosigkeit. 


Was ist Ihre Diagnose, wenn Sie das so lesen? Bin ich politikverdrossen? Sehe ich zu schwarz? Natürlich ist Demokratie anstrengend. Erst müssen Lösungen gefunden, dann Kompromisse geschlossen werden. Doch wer sagt, dass wir aus Nettigkeit, aus Angst, aus Opportunität in einer Demokratie uns mit Fantasie- und Mutlosigkeit, mit Herumlavieren, mit Taktieren auch in ethischen Fragen, mit Machtmissbrauch und mit Charakterlosigkeit abfinden müssen? Ganz im Gegenteil – gerade demokratische Regelungen sollten so gestaltet sein, dass man sich Wählerinnen und Wähler solcher Personen entledigen können. 


Etwas ist ins Rutschen geraten. Wo „Nazi“ und „rechts“ so ausgelutscht sind nach inflationärem Gebrauch; wo einerseits die Sicherheit und Existenz eines Staates rhetorisch zum Maß aller Dinge gemacht wird, um andererseits vier Wochen später dessen Gegner noch mehr Geld in den Rachen zu schieben; wo Journalisten sich mit Politikerinnen zur Erfüllung der gleichen Agenda zusammentun; wo Recht nur noch bei überschaubarem Widerstand dort durchgesetzt wird, wo es politisch opportun scheint; dort muss man Angst haben, dass Mehrheiten auf einmal doch nicht mehr im demokratischen Spektrum gefunden werden können. 


Und dann? Bin ich wieder müde ob der Kassandrarufe, die über Jahre verhallten oder willentlich mundtot gemacht wurden. 




ALEXANDER BAGUS

Präses

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