Über Wandel in der Immobilienbranche und der Gesellschaft.
Interview mit Toni Ser geführt von Johannes Brill

Toni Ser absolvierte im Jahre 2011 sein duales Studium mit einem Bachelor in Bauwesen - Fassadentechnik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Mosbach und der Open University Milton Keynes, Großbritannien. Anschließend erlangte er seinen Abschluss als Master of Business Administration in Wirtschaftsingenieurwesen, Vertiefung Bau, im Masterstudium an der Hochschule Karlsruhe. Aktuell ist Toni Ser als Senior Consultant bei der Real Estate Consultancy Brand Berger tätig.
Johannes Brill (JB): Wer ist Toni Ser und was macht Tonis Ser beruflich?
Toni Ser (TS): Ich bin in der Immobilienwirtschaft als Senior Real Estate Consultant bei Brand Berger tätig. Brand Berger ist ein technischer Consultant. Wir begleiten in der Immobilienbranche drei Geschäftsfelder: Die Transaktionsberatung, den Ankaufprozess und die Beratung von Bestandshaltern beim Betrieb von Immobilien. Seit drei Jahren fokussieren wir uns auf das Thema Nachhaltigkeit, was sich auch grob unter dem Begriff ESG zusammenfasst.
JB: Was ist ESG?
TS: Das Akronym ESG steht für Environment, Social and Governance. Der Begriff der Nachhaltigkeit wurde in den 1970er Jahren geprägt. Nachhaltigkeit hat drei Säulen: eine wirtschaftliche, eine ökologische und eine soziale. Nachhaltigkeit hat mit ESG ein neues Kleid, was insbesondere in der Immobilienwirtschaft für Furore sorgt.
JB: Du hast Dich in den vergangenen Monaten zu einem Experten für Sustainable Finance ausbilden lassen. Was hat Dich dazu motiviert?
TS: Ich bin eigentlich Ingenieur. Es ist also erstmal nicht naheliegend, dass ich mich mit der Finanzindustrie beschäftige. Unsere Kunden kommen allerdings zu 80 Prozent aus der Finanzwirtschaft. Das sind institutionelle Investoren oder Banken. Wir haben dementsprechend einen großen Bezug zur Finanzwirtschaft. In der Finanzwirtschaft wird ESG auf einer Metaebene diskutiert. In der Immobilienbranche diskutieren wir das Thema allerdings sehr technisch. Man muss es also schaffen, beide Sachen miteinander zu verzahnen und füreinander zu übersetzen. Das schaffe ich nur, wenn ich die pain points unserer Auftraggeber verstehe und ESG über die technische Ebene hinaus betrachte. Erst dann ist es mir möglich, meine Kunden vernünftig zu beraten.
JB: Warum ist die Finanzindustrie so ein wichtiger Akteur in der grünen Transformation?
TS: Die Finanzwirtschaft hat eine extreme Lenkungswirkung. Dort, wo Finanzströme hingeleitet werden, kann ich auch etwas bewegen. Die Finanzwirtschaft hat durch ihr Kapital einen großen Einfluss auf Wandel. Beim Thema Nachhaltigkeit wird die Finanzindustrie politisch gesteuert. Durch die europäische Taxonomieverordnung ist das Thema Nachhaltigkeit das Thema in der Finanzindustrie geworden. Die Politik steuert also über die Taxonomieverordnung die Finanzindustrie, um so andere Wirtschaftszweige ebenfalls zu lenken.
Es ist wichtig zu betonen, dass insbesondere Banken unfassbar risikoavers sind. Integriert man ESG-Risiken in die Risikoanalyse von Portfolien, entwickeln Banken Finanzprodukte, die eine nachhaltige risikoarme Lenkungsrichtung entfalten. Betrachtet man jetzt die letzten zwei Jahre in der Immobilienwirtschaft merkt man, dass das Ganze Früchte getragen hat. Aktuell gibt es keine Transaktion mehr, bei der ESG keine Rolle mehr spielt.
JB: Jetzt wo Investoren und Banken auf Nachhaltigkeit achten, werden auch nur vermeintlich nachhaltige Produkte als solche verkauft. Wie kann ein Investor sicherstellen, dass eine Investition tatsächlich nachhaltig ist?
TS: Für nachhaltige Finanzprodukte gibt es Nachhaltigkeitslabels. Das ist vergleichbar mit einem Biosiegel im Supermarkt. Obwohl die Standards noch nicht einheitlich sind, schaffen Nachhaltigkeitslabels erst einmal Transparenz für Investoren.
Ich veranschauliche das mal mit einem Blick in die Immobilienwirtschaft. Man kann ein Gebäude technisch aus einer Nachhaltigkeitsperspektive betrachten. Hierfür wird ein Blick auf die technischen Kriterien der Taxonomie geworfen. Da gibt es dann hunderte Seiten von Vorgaben. Diese werden dann mit den technischen Daten des Gebäudes gegengeprüft. Gleichzeitig gibt es für Gebäude Green-Building-Zertifizierungen, die man allerdings nicht mit der Taxonomie gleichsetzen kann. Es gibt also zwei unterschiedliche Bewertungen eines Gebäudes, die nicht unbedingt miteinander zusammenhängen. Beispielsweise sind nur 70 Prozent der durch die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) zertifizierten Gebäude auch taxonomiekonform.
Daher ist es wichtig, sich als Investor ein eigenes ESG-Framework aufzulegen, um zu sehen, was man selbst als sinnvoll erachtet, um den eigenen Investitionsprozess bewusst zu steuern. Darüber hinaus ist ein eigenes ESG-Framework wichtig, weil die politische Regulierung und die Nachhaltigkeitskriterien der Taxonomie dynamisch sind. Investoren gucken jetzt bereits in die Zukunft und stellen sich die Fragen, wie in der Zukunft die Anforderungen aussehen könnten.
JB: Fehlt den Investoren in der Immobilienwirtschaft Planungssicherheit für die Zukunft?
TS: Ja, ich würde sogar noch weitergehen. Wenn man jetzt ein Gebäude kauft, muss man alle Kriterien der Zukunft erfüllen. Dabei zählen nicht nur die Kriterien der Gesetzgebung, sondern auch die Kriterien, die wir anwenden sollten, um den Erhalt unseres Planeten sicherzustellen. Wenn man ein Objekt ankauft, das diese Kriterien nicht erfüllt, muss man wenigstens einen Plan haben, wie man das Gebäude revitalisieren kann.
JB: Welchen Beitrag hat die Immobilienwirtschaft bei der Bewältigung der Klimakrise?
TS: Erst einmal hat sie einen großen Anteil an der Entstehung der Krise. Sie ist, je nachdem, ob man CO2 oder Energieintensität betrachtet, für 40 bis 50 Prozent der schädlichen Emissionen in Deutschland verantwortlich. Man braucht viel Energie bei der Herstellung der Immobilie und dann extrem viel Energie im Betrieb durch Heizung, Wassererwärmung, Klimatisierung oder Lüftung. Neue Objekte müssen mittlerweile auch eine E-Lade-Infrastruktur haben, die zusätzlich Energie benötigt. Wir in der Immobilienwirtschaft haben einen enormen Hebel bei der Bewältigung der Krise; dessen sind sich viele noch nicht bewusst.
Ein weiteres Thema ist der Müll in der Immobilienwirtschaft. Wir sind für mehr als 50 Prozent des in Deutschland jährlich anfallenden Mülls verantwortlich. Wir reden immer über die Energiekrise; was eigentlich viel intensiver diskutiert werden müsste, ist das Thema Material. Denn wir befinden uns eigentlich in einer Materialkrise. Als Industriestandort ist das für uns sehr gefährlich.
JB: Was bedeutet der Begriff „Materialkrise“ und wie lässt sich diese Krise lösen?
TS: Eine Materialkrise bedeutet, dass Rohstoffe nicht zu dem Preis verfügbar sind, zu dem ich sie eigentlich benötige. Durch den russischen Angriffskrieg ist das Stahlwerk in Mariupol ausgefallen. Das hat man sofort an den Baustahlpreisen der deutschen Immobilienwirtschaft gemerkt.
Das alles ist aber auch ein selbstgemachtes Problem der Immobilienwirtschaft. Wir versuchen uns in unserer Volkswirtschaft insgesamt immer so zu verhelfen, dass wir im Falle einer Rohstoffknappheit immer neue Technologien entwickeln, um neue Rohstoffe zu erschließen. Hierfür wird immer mehr Kapital in den Produktionsprozess gesteckt, wobei wir uns der Endlichkeit der Rohstoffe fast nicht mehr bewusst werden. Rohstoffe werden konsumiert und dann wieder weggeworfen. In der Immobilienwirtschaft kann man mit den verbrauchten Ressourcen auch nichts mehr machen. Wenn wir unseren Planeten und unsere Volkswirtschaft langfristig erhalten wollen, müssen wir in anderen Wirtschaftsmodell denken, in zirkulären Modellen. Was ich gerade beschrieben habe, ist das klassische Modell des Wirtschaftens. Die Antithese zur linearen Wegwerfgesellschaft ist die Circular Economy oder Kreislaufwirtschaft.
JB: Wie können Unternehmen in der Immobilienwirtschaft die Kreislaufwirtschaft in ihre Geschäftsmodelle integrieren?
TS: Nehmen wir das Beispiel einer Logistikhalle, die modular gebaut wurde, bei der man sich, als man das Gebäude gebaut hat, Gedanken dazu gemacht hat, wie man das Gebäude weiterverwerten könnte. Die Konstruktion des Gebäudes wurde beispielsweise verschraubt und nicht verklebt. Wenn man Sachen verklebt, dann kann man es nicht weiterverwenden. Die verwendeten Ressourcen können nach Nutzung nur noch auf eine Mülldeponie gebracht und verbrannt werden. Wenn man Gebäude mechanisch verbindet, also verschraubt oder vernagelt, kann man die Ressourcen weiterverwenden. Die Logistikhalle hat eine Stahlträgerkonstruktion. Jetzt befinden wir uns in der Situation, dass das Stahlwerk in Mariupol ausfällt, und aufgrund der wirtschaftlich schwierigen Lage kündigt unser bisheriger Einzelmieter. Es findet sich aufgrund der schwierigen Lage kein Nachmieter. Jetzt wäre es spannend zu sehen, was passiert, wenn wir den verbauten Stahl wieder in die Wirtschaft einführen. Durch den Anstieg der Stahlpreise würde sich ein Verkauf durchaus lohnen. Betrachtet man das Gebäude nicht mehr als Müllhalde, sondern als Rohstoffdepot, steckt ein weiterer wirtschaftlicher Wert für den Inhaber und die Gesamtwirtschaft hinter dem Gebäude.
JB: Wenn wir jetzt den Blick über die Immobilienwirtschaft hinauswagen, wie können Unternehmen zirkuläre Geschäftsmodelle entwickeln?
TS: Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist der Ursprung meiner Begeisterung für die Kreislaufwirtschaft. Ich habe eine Dokumentation eines holländischen Architekten gesehen, der ein Gebäude geplant hat. Für das Gebäude brauchte man tausende Lampen. Hierfür hat man, anstatt Lampen zu kaufen, die Lichtmenge bei einem Lampenhersteller gekauft. Anstatt also für jede einzelne Lampe zu bezahlen, wurde für das Gesamtprodukt Licht bezahlt, Stromverbrauch der Lampen inklusive. Das verantwortliche Unternehmen hat angefangen, neue Lampen zu entwickeln, die deutlich mehr Energie sparen und besser recyclebar sind. Das Unternehmen wurde in den Produktzyklus integriert. Integriert man Hersteller in den Produktzyklus entstehen nachhaltigere Produkte.
JB: Was für Hürden gibt es für Unternehmen bei der Etablierung zirkulärer Geschäftsmodelle?
TS: Hier ist die Gesetzgebung an vielen Punkten eine Hürde. Ich gehe hierfür wieder in die Immobilienwirtschaft. Die Wiederverwendung bestimmter Bauteile mit bestimmten technischen Anforderungen ist qua Gesetz nicht erlaubt. Hier muss man einen anderen Weg schaffen, damit man das zulässt. Unsere technische Normung passt da oft noch nicht zu. Gleichzeitig ist eine Hürde die fehlende Nachfrage. Welche zirkulären Produkte konsumieren wir denn? Die meisten Leute konsumieren keine. Das liegt auch daran, dass es gar nicht mal so viele gibt. Überall da, wo man allerdings das Produkt als Service begreift und der Hersteller in den Prozess integriert wird, besteht ein Interesse an der Langlebigkeit des Produkts. Hierfür braucht es auf der einen Seite einen Mindset-Change bei den Unternehmen und Aufklärungsarbeit bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
JB: In dieser Ausgabe der Liberalen Perspektiven geht es um Zukunftsmodelle für Deutschland. Nehmen wir an, Du würdest die deutsche Regierung zu Zukunftsmodellen für Deutschland beraten. Was würdest Du der Regierung raten zu tun?
TS: Wir müssen Prozesse beschleunigen. In Deutschland brauchen die Sachen insgesamt zu lange. Das lässt sich aus der Privatwirtschaft leicht sagen, da ich die Komplexität politischer Prozesse nicht kenne. Wenn wir jetzt aber über die globale Erderwärmung reden, sagen die Leute: „Gibt es vielleicht.“, „Weiß ich nicht.“, „Ups.“ und „Fuck.“. Ich sage immer wir stehen zwischen „Ups.“ und „Fuck.“. Wir haben also Themen, die schnelle Lösungen brauchen. Und insbesondere bei der Dekarbonisierung müssen wir Gas geben.
Mein Gefühl ist, dass die Politik ein Problem mit übertriebener Überbürokratisierung hat. Erst, wenn wir dieses Problem überwinden, können wir Innovationen umsetzen. Das hat zwar mit Circular Economy und Sustainable Finance gar nichts zu tun, ist aber ein „Must Have“. Wenn wir erst zehn Jahre darüber reden, was das beste Framework für Circular Economy und Sustainable Finance ist, dann ist das Kind schon längst in den Brunnen gefallen. Gleichzeitig brauchen wir mehr Verlässlichkeit und Planbarkeit. Hierbei helfen vor allem Transparenz und eine klare Kommunikation, die einen Ausblick in die nächsten ein bis drei Jahre gibt. Zudem ist ein Auftrag der Politik die Bildung der Bevölkerung. Ich frage mich immer, warum es das Schulfach „Nachhaltigkeit“ noch nicht gibt. Das wäre ein wichtiges Steuerinstrument, um die Bildung beim Thema Nachhaltigkeit von Verbrauchern zu verbessern.
JB: Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, mit mir zu sprechen. Ich danke dir für die spannenden Einblicke.
TS: Ich bedanke mich ebenfalls für die Einladung zum Interview.

Johannes Brill hat 2022 seinen Bachelor in Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen gemacht. Aktuell macht er seinen Master in Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Nebenbei arbeitet er als Werkstudent für ein deutsches Family Office im Bereich Real Estate. Im Jahr 2022 war er International Officer des Bundesverbandes Liberaler Hochschulgruppen.