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Vom Beruf unserer Zeit

Der liberale Rechtsstaat und seine Fortentwicklung

von Marc Bauer

Die Verfassung von Massachusetts forderte 1780 die Gewaltenteilung, und zwar „to the end it may be a government of laws, and not of men“. Die „Herrschaft des Rechts“ ist seitdem zu einem zentralen Pfeiler jenes Modells von Staatlichkeit geworden, das man als „liberale Demokratie“ zu bezeichnen pflegt. Dass es überhaupt Begriffe wie Rechtsstaat und Rechtspolitik gibt, bezeugt, dass das Recht mehr ist als eine bloße Ansammlung von Regeln, als die Ausformulierung von Befehlen und Machtworten. Recht wird nicht formalistisch verstanden, sodass es jeden beliebigen Inhalt, auch den des materiellen Unrechts haben könnte, sondern die Idee des Rechts ist in dieser Tradition untrennbar verknüpft mit dem Gedanken des Ausschlusses staatlicher Willkür und des Schutzes der Bürger. Diese sind nicht Objekt des Rechts, sondern haben als Rechtssubjekte einen unverlierbaren Anspruch auf Freiheit – sie haben eigene „Rechte“.


Angriffe auf den Rechtsstaat und dessen Erosion


In der Gegenwart ist der Rechtsstaat etabliert und routiniert – in den großen Fragen des Verfassungsrechts ebenso wie in den täglichen Streitigkeiten des Zivil-, Straf- und Verwaltungsrechts. Die Rechtsordnung ist umfangreicher und detaillierter denn je und gibt Fragen auf immer neue und komplexere Themen. Doch es sind auch Erscheinungen, die zum Handeln auffordern. Damit ist zum einen die offensichtliche Erosion des Rechtsstaats auch in Teilen der westlichen Wertegemeinschaft gemeint, in Polen und Ungarn, aber auch Angriffe auf die unabhängige Justiz in Israel und den USA. Und auch in Deutschland gibt es an beiden Enden des politischen Spektrums rhetorisch oft frappierend ähnliche Angriffe auf die Justiz, befeuert auch durch die Stammtischkultur in den Kommentarspalten der Sozialen Medien, sobald von einer Straftat berichtet wird, und einem Boulevardjournalismus, der Taten emotionalisiert und durch selektive Berichterstattung ein Zerrbild der Kriminalitätsentwicklung in den Köpfen vieler Menschen verankert.

Der Rechtsstaat wird aber nicht nur durch direkte Attacken bedroht, die auf die Unabhängigkeit der Richter zielen. Der Rechtsstaat braucht auch, auf lange Sicht, das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats. Dieses Vertrauen schwindet, wenn Verfahren sich über viele Jahre ziehen. Die Überlastung der Justiz ist in allen Rechtsbereichen sichtbar, und die Folgen sind für Betroffene ebenso wie für die Allgemeinheit spürbar. Sei es im Planungsrecht, wo zwischen dem politischen Entschluss für eine Stromtrasse, eine Bahnstrecke oder ein Neubaugebiet und dem ersten Spatenstich oft fast ein Jahrzehnt an Planung und Rechtsstreitigkeiten liegt; sei es im Zivilrecht, wo die Justiz unter Massenverfahren wie beim Dieselskandal ächzt. Auch im Asyl- und Ausländerrecht gibt es oft jahrelange Schwebezustände, die in jeder Hinsicht verheerend sind. Strafverfahren dauern so lange, dass Beschuldigte – für die bis zur Rechtskraft die Unschuldsvermutung gilt – oft empfindlich lange in der besonders resozialisierungsfeindlichen U-Haft verbringen – oder eben trotz dringenden Tatverdachts und womöglich bestehender Wiederholungsgefahr entlassen werden müssen. Nicht wenige Strafurteile – oder auch Disziplinarurteile der Wehrdisziplinargerichte – müssen mit Blick auf die Verfahrensverzögerung und den langen Abstand zur Tat gemildert werden. Um der Überlastung Herr zu werden, werden viele leichte und mittelschwere Taten gar nicht mehr angeklagt, sondern Einstellungsmöglichkeiten ausgeschöpft und „Verfahrensabsprachen“ getroffen, um Prozesse ohne langwierige Beweiserhebung, aber freilich mit erheblichem Strafrabatt beenden zu können.


Fehlentwicklungen in der Rechtssetzung


Den Problemen der Justiz korrespondieren Fehlentwicklungen in der Rechtssetzung. Der Hang zum ad-hoc-Gesetz als Reaktion auf einen Einzelfall, ist, insbesondere im Strafrecht, beliebter denn je. Ohnehin gibt es eine Tendenz zu schnelllebiger, hektischer Gesetzgebung, der Vernachlässigung von Systematik und Konsistenz, dem Verlust von Abstraktion und rechtswissenschaftlicher Dogmatik, der Verdrängung wissenschaftlicher, idealerweise evidenzbasierter Gesetzgebung zugunsten medial getriebener Projekte, bei denen Symbolik über Substanz triumphiert. Hinzukommt eine weiter wuchernde Bürokratie in allen Rechts- und Lebensbereichen, die durch das Recht, wenn nicht geschaffen, so doch ermöglicht wird. Abgerundet wird dies durch einen gewissen – strukturellen, nicht parteipolitisch zu verstehenden – Konservatismus, der auch gegen manche Modeerscheinung helfen mag, aber auch dazu führt, dass manche Rechtsbereiche stehen bleiben, während sich die Lebensverhältnisse verändern.


Die Rechtspolitik der letzten Jahrzehnte war gekennzeichnet durch einen kuriosen Widerspruch. Während einerseits die beschriebene Anhäufung handwerklich schlecht gemachten oder inhaltlich korrekturbedürftigen Rechts immer noch weitergetrieben wurde, wurden andererseits Abhilfemaßnahmen gegen die auch hierdurch geschürte Arbeitsbelastung getroffen oder gefordert: Der Überlastung wurde entgegengewirkt durch den immer weiteren Abbau von Verfahrensstandards und Verfahrensrechten der Beteiligten. Sei es durch die Verkürzung des Rechtswegs, den Ausbau der Möglichkeit, durch einen Einzelrichter zu entscheiden, die Einschränkung des Rechts auf eine mündliche Verhandlung, striktere Fristen für Stellungnahmen und weitere prozessuale Regelungen. Speziell im Strafrecht wurden die Rechte des Beschuldigten stetig abgebaut, freilich nicht nur vor dem Hintergrund von Verfahrensbeschleunigung, sondern auch im Sinne einer zunehmenden Stärkung der Stellung – bis zur Verurteilung: präsumtiver! – Opfer.


Macht und Ohnmacht des Justizapparats

Um es klar zu sagen: Nicht jede Reform in jedem Gerichtszweig ist kritisch zu sehen, nicht jede frühere Regelung vorzugswürdig. Doch in der übergreifenden Betrachtung ist die Tendenz eindeutig: Um der Beschleunigung und Entlastung willen werden die Qualität von Verfahren und – besonders im Strafrecht – teils auch die rechtsstaatliche Balance gefährdet. Allmacht und Ohnmacht des Staates liegen hier allerdings oft nah beieinander: Gegenüber dem einzelnen Angeklagten ist der staatliche Justizapparat in einem gewaltigen Vorteil. Dort aber, wo Geld und Ressourcen für eine ausdauernde Verteidigung vorhanden sind, namentlich in der organisierten Kriminalität oder im Bereich der Wirtschaftskriminalität, ist es der Staat, der zu oft überfordert wirkt und zum Mittel der Einstellung oder der Verfahrensabsprache greifen muss, dem „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“ (so der Jurist Bernd Schünemann). Besondere Aufmerksamkeit verdiente auch der wachsende Einfluss von klagebefugten Verbänden, besonders im Umweltrecht, die zwischen privatem Vereinsrecht, Handeln als Art Treuhänder öffentlicher Interessen und Instrument für die Verfolgung politischer Interessen mit justiziellen Mitteln hin und her changieren, sowohl rhetorisch als auch zum Beispiel in Fragen von Transparenz und Finanzierung.

Dieser kurzen, aber nicht weniger bedrückenden Skizze eine Vision von der Revitalisierung des Rechtsstaats entgegenzusetzen, ist der Beruf unserer Zeit. Denn es ist höchste Zeit, Fehlentwicklungen zu stoppen und umzukehren. Der Koalitionsvertrag der Fortschrittskoalition liest sich als ein Gegenentwurf: Eine „vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik“ wird gefordert, das Strafrecht „systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche“ überprüft werden. Die Qualität von Gesetzgebung soll besser evaluiert werden. Deutlicher könnte der Kontrast zur Gesetzgebung der letzten Jahre nicht sein. Planungsverfahren sollen doppelt so schnell durchgeführt werden wie bisher; Gerichtsverfahren generell beschleunigt werden. Letzteres ist keine neue Forderung – entscheidend sind die Mittel, die hierzu verwendet werden.


Standardisierte Prüfung der Rechtssetzung

Der Gesetzgeber ist gut beraten, zuvörderst nicht das Recht zu reformieren, sondern die Rechtssetzung selbst. Es braucht eine standardisierte Prüfung von Gesetzesvorschlägen, die ihren Namen auch wirklich verdient, einschließlich der starken Einbindung der Wissenschaft, und auch eine standardisierte Nachprüfung (Evaluation) von Gesetzen, wo möglich und sinnvoll abgesichert durch den zeitlichen Druck von sog. Sunsetklauseln. Auch hier bietet der Koalitionsvertrag löbliche Anstöße, etwa ein Zentrum für Legistik, die Stärkung des Normenkontrollrates sowie zum Beispiel einen Digitalcheck.


Die Überlastung des Rechtsstaats beruht teilweise auf einem stetigen Bürokratieaufbau. Nicht nur im Strafrecht, sondern auch in allen Rechtsgebieten sollte eine große Entschlackungsoffensive stattfinden. Konzepte wie „one in, two out“ (d.h. bei Schaffung einer gesetzlichen Regelung Streichung zweier anderer gesetzlicher Regelungen, Anm. d. Red.) sind natürlich eher Schlagworte, denn der Rechtsumsetzungsaufwand hängt natürlich nicht in erster Linie mit der Zahl von Paragraphen oder Gesetzen zusammen, sondern deren Länge, Komplexität oder Inhalt. Ziel sollte es aber sein, größere Sinneinheiten sukzessive einer umfassenden Evaluation zu unterziehen und dann eine formelle, sprachliche und inhaltliche Neufassung anzustreben. Ziel sind verständliche, übersichtliche und klare Normen (formeller Aspekt), die auf die aktuellen Lebensverhältnisse noch passen und entstehende Konflikte möglichst aufwandsarm klären (materieller Aspekt).


Die Forderung nach mehr Richtern ist richtig; allerdings ist der demographische Wandel ebenso eine Tatsache wie der hohe Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt für hochqualifizierte Juristen. Wichtig ist deshalb auch, dass Richter (und Staatsanwälte und Verwaltungsjuristen) von Tätigkeiten organisatorischer Art entlastet werden, indem mehr Sekretariatskräfte, aber zum Beispiel auch technischer Support bereitgestellt wird. Hierdurch können enorme Potenziale freigesetzt werden. Die Ausnutzung digitaler Kommunikationswege, aber auch digitaler Tools zur Strukturierung von Vortrag und zur Arbeit mit Textbausteinen kann ebenfalls erhebliche Zeitersparnisse bringen. Nicht nur für die Rechtswissenschaft und die wissenschaftliche Analyse des Rechts, sondern auch für den praktisch arbeitenden Juristen wäre es zudem eine enorme Verbesserung, wenn Urteile in Deutschland nicht nur in seltenen Ausnahmefällen, sondern im Regelfall veröffentlicht würden – auch das erforderte dann aber, dass die hierzu nötige Bearbeitung und Anonymisierung nicht von Hand durch die jeweiligen Richter, sondern von einer zentralen Stelle erfolgt.


Evidenzbasiert, abstrakt-generell statt einzelfallgetrieben, bürokratiearm: Das sind die Leitlinien für eine Rechtspolitik der Zukunft. Abgesichert durch eine leistungsfähige Justiz mit ausreichenden Personal- und Sachmitteln, trägt dies dazu bei, Fehlentwicklungen im Rechtsstaat umzukehren und das Vertrauen der Bürger zu stärken. Das ist der Beruf unserer Zeit.


 



Marc Bauer, Jahrgang 1995, ist Jurist und Rechtswissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestagsbüro von Dr. Marco Buschmann. Er ist zudem Vorsitzender des Bundeschiedsgerichts des Bundesverbandes Liberaler Hochschulgruppen. Er hat an der Universität Köln studiert und sich bei der LHG und den JuLis Köln engagiert.

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