von Sophia Kissling
Aufgrund des Aussehens habe ich Kim nicht zugetraut, dass Kim gute Texte schreiben kann – und wurde eines Besseren belehrt. Ich, die von sich glaubte eine klassisch Liberale zu sein, habe mich von reflexartigen Hassreaktionen mitreißen lassen. Eine Person, die ein transparentes violettes Langarmshirt, darüber einen neongrünen Flusenteppich, einen smaragdfarbenen langen Glitzerrock, eine dicke Goldkette, Schnurrbart und roten Lippenstift trägt, betritt die Bühne. Kim ist nonbinär, fühlt sich also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis für den Roman „Blutbuch“, betont Kim de l’Horizon in der Dankesrede: „Dieser Preis ist nicht nur für mich“, rasiert sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran den Kopf, stimmt spontan ein Lied an, dankt unter Tränen der eigenen Mutter und bezeichnet den Preis als „ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe“. Das war theatralisch im wörtlichen Sinne und wirkte.
Das wirkte vorhersehbar und verabscheuenswert – auf viele Menschen in der Republik, die ihrem Unmut auf Twitter Dampf machten. Kim de l’Horizon habe nur gewonnen, weil Kim als nichtbinäre schrille Person die LGBTQ-Gemeinschaft vertrete, und der Deutsche Buchpreis wolle sich mit eben dieser „Agenda“ profilieren.
Auch ich lasse normalerweise keine Gelegenheit aus, linke kollektivistische und freiheitsfeindliche Ausdrücke einschlägiger Autoren und Institutionen mit harten Worten zu kommentieren. Also suchte ich reflexartig nach der Leseprobe des Romans „Blutbuch“, in der Hoffnung eine Passage zu finden, über die ich mich öffentlich lustig machen kann, um mich bei meinen Followern beliebt zu machen, die mich für meine bissigen Kommentare abfeiern.
Die Erzählfigur in „Blutbuch“ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Anstelle des Wortes „man“ schreibt de l’Horizon konsequent „mensch“ und gendert mit Sternchen. Und obwohl mich derartige Vergewaltigungen der deutschen Sprache normalerweise massiv irritieren, habe ich weitergelesen – bis die Leseprobe zu Ende war und ich wissen wollte, wie es weiter geht. Doch gar nicht so schlecht, fesselnder intimer Erzählstil – keinen Tweet wert.
Zwei Tage nach Erhalt des Buchpreises schreibt Kim de l’Horizon in der NZZ einen Essay an den Schweizer Politiker Ueli Maurer, welcher anlässlich seiner Rücktrittserklärung aus dem Schweizer Bundesrat gesagt hatte, ihm sei egal, ob auf ihn ein Mann oder eine Frau folge, „solange es kein ‚Es‘ ist, geht es ja noch“. Kim habe diese Aussage verletzt, schreibt er in der NZZ. Er fühle sich geschlagen. Was er verkörpert wurde geschlagen. Kim schreibt:
„Ich möchte durch diese Wunden sprechen, aber nicht als ein «Wir». Denn ich spreche nicht für «die» trans* und nonbinären Menschen. Es gibt keine Gender-Ideologie, keine Queer-Propaganda, kein Netzwerk von sich verschwörenden Einhörnern, die die Weltmacht erlangen wollen. Es gibt Menschen wie mich, die vor allem in loser Community zueinanderhalten, weil wir angefeindet, geschlagen und getötet werden. […] Ich stehe nicht für eine politische Partei oder eine euch auslöschende Macht. Ich stehe nicht für die Menschen, die sagen, dass alte weisse Männer der Kern allen Übels sind. Nein, denn Frauen wie Alice Schwarzer oder Joanne K. Rowling bekämpfen ja auch Körper wie den meinen. Ich – stehe – für – mich. Und kann es sein, dass genau das so bedrohlich ist? Dass hier ein Mensch steht, der nicht hineinpasst, der, obwohl er ständig herumgeschubst wird, wieder hinsteht, dem gesagt wird, er sei peinlich, hässlich, monströs, ausserirdisch, und der sich dennoch nicht versteckt, sondern für sich, für seine Monstrosität einsteht?“ – Kim de l‘Horizon: «Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch».“ NZZ Online vom 19.10.2022
Damit hat der Autor mich eiskalt erwischt. Kim, den ich stellvertretend für kollektivistische Neu-Linke gesehen habe, ist der Individualist persönlich. Damit ist er liberaler als ich, denn ich habe ihn vorverurteilt. Ich habe ihm aufgrund seines Aussehens nicht zugetraut, dass er gute Texte schreiben kann – und wurde eines Besseren belehrt. Ich, die von sich glaubte, eine klassisch Liberale zu sein, habe mich von den reflexartigen Hassreaktionen mitreißen lassen.
Und ich verabscheue alle „Woken“ dafür, dass ich ihn in diese dumme Schublade gesteckt habe. Doch in Wahrheit verfluche ich mich selbst dafür. Es ist allein meine Schuld. Völlig entgegen meinem liberalen Selbstbild, war ich gedanklich nicht weniger unterkomplex unterwegs als die, denen ich eben jenes immer vorwerfe. Es ist naheliegend, dass er nur gewonnen hat, weil der Buchpreis sich als LGBTQ-freundlich profilieren möchte. Und noch naheliegender sollte es sein, dass er gewonnen hat, weil er verdammt gut schreiben kann.
Was könnte liberaler sein, als der Wunsch danach, so auszusehen und so leben zu wollen, wie man möchte und wie man sich fühlt? Wir zeigen uns solidarisch mit den Menschen im Iran, die vom islamischen Unrechtsregime zum Kopftuch gezwungen werden, wo Homosexuelle nach dort geltendem Recht zum Tode verurteilt und ausgepeitscht werden. Und verdrehen hier die Augen, wenn jemand zu bunt und queer aussieht, weil wir ihn politisch im „feindlichen“ Lager verorten.
Geschlecht und Geschlecht
Meine reflexartige Abneigung gegen Kim de l’Horizon erkläre ich mir durch das illiberale Auftreten von Mitgliedern und Sympathisanten der Trans-Gemeinschaft, die das biologische Geschlecht völlig abstreiten. Dies ist eine nicht faktenbasierte Leugnung von biologischen Tatsachen. Gerne wird dazu mit dem Begriff „toxische Männlichkeit“ hantiert, womit alles vermeintlich Männliche als gewaltvoll, übergriffig und schlecht abgewertet wird. Durch Logik wird hier nicht bestochen. Auf der einen Seite ein binäres Geschlechtssystem leugnen, und auf der anderen Seite etwas wie „toxische Männlichkeit“ empfinden – was denn nun?
Gibt es nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich, oder ist Geschlecht ein Spektrum? Für diese Debatte lohnt es sich zwischen dem biologischen Geschlecht („sex“) und dem sozialen Geschlecht („gender)“ zu unterscheiden. Es gibt nur zwei biologische Geschlechter. Und es gibt intersexuelle Menschen, die bei der Geburt durch veränderte Geschlechtschromosomen oder genetisch bedingte hormonelle Entwicklungsstörungen von der biologischen Geschlechtsnorm abweichen. Die Intersexualität gehört zu den „Störungen der Geschlechtsentwicklung“. Seit Dezember 2018 kann im Standesamt als Geschlecht „divers“ eingetragen werden.
Unter dem sozialen Geschlecht versteht man die Geschlechtsrolle und -identität in Beziehung zur Kultur und gesellschaftlichen Prägungen. Wie eine Person ihr eigenes Geschlecht erfährt und empfindet, ist eine persönliche und intime Erfahrung, die sich nicht in ein binäres System einordnen lässt.
Lasst uns gerne über Geschlechterrollen und über Männlichkeit diskutieren. Aber bitte auf der Grundlage, dass es nur zwei biologische Geschlechter (mit Intersexuell als Ausnahme) gibt und, dass Männlichkeit nicht per se toxisch ist.
„Männlichkeit ist toxisch, bis dein Land verteidigt werden muss.“ Diesen Satz habe ich anlässlich des Überfalles der russischen Streitkräfte auf die Ukraine getweetet. Männlichkeit ist nicht toxisch, Männlichkeit ist notwendig für unser Fortbestehen. Männlichkeit bedeutet Aggression und potenzielle Gewalt. Aggression bringt uns zu Höchstleistungen und führt eben nicht unweigerlich zu Gewalt – ein weit verbreiteter Irrglaube. Jeder, der schon einmal bis an die äußerste Belastungsgrenze körperlich trainiert hat, weiß, was dieses Gefühl für eine positive Kraft freisetzen kann. Das Potenzial, Gewalt anzuwenden, schreckt bedrohliche und feindliche Kräfte ab. Die Schwachen werden durch die Starken beschützt. Selbstverständlich dürfen auch nicht männliche Personen aggressiv sein und eher männliche Attribute besitzen. Gerade wenn es um so etwas wie Gehaltsverhandlungen geht, schadet es Frauen sicher nicht, hier und da selbstbewusster und aggressiver vorzugehen.
An den Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit ist nichts verwerflich. Darüber zu diskutieren, bedeutet nicht, dass wir uns als biologische Frau automatisch in einer gewissen Geschlechterrolle finden müssen, weil wir sonst nicht „richtig“ sind. Gleichzeitig gibt es nun mal geschlechtsspezifische körperliche und charakterliche Unterschiede, die nicht nur auf die Erziehung oder frühkindliche Erfahrungen zurückzuführen sind. Mädchen verhalten sich anders als Jungen und das ist bereits kurz nach der Geburt zu beobachten. Darüber hinaus lese ich immer nur von Frauen als Opfern von zu engen Rollenbildern und gesellschaftlichen Zwängen. Doch bekommen Mädchen bessere Noten als Jungen und haben bessere Schulabschlüsse. Etwa 95% der Inhaftierten in Deutschland sind Männer. Rund 75% der Suizide werden von Männern begangen. In gefährlichen Berufen arbeiten fast ausschließlich Männer. Und in jeder Parfümwerbung sieht man die perfekt gestählten Bauchmuskeln. Wenn es also um Diskriminierungen geht, dann bitte nicht nur an Frauen in Führungspositionen denken.
Danke Kim de l’Horizon, dass du mir den Spiegel vorgehalten hast. Danke, dass du mein Feindbild so brutal erschüttert hast. Danke, dass du deine Geschichte für uns alle aufgeschrieben und mich mit deinen Worten tief berührt hast. Danke, dass ich durch dich den Kern meines liberalen Selbstbildes neu gefunden habe. Danke für deinen unerschütterlichen Individualismus.

Sophia Kissling fand durch Twitter zum Liberalismus, wo sie das politische Geschehen kommentiert (@sophiamariaka). Nach ihrer Ausbildung zur Mediengestalterin absolvierte sie den Bachelor in Militärgeschichte an der Universität Potsdam und arbeitete während des Studiums als Infografikerin für BILD und Social Media Redakteurin für WELT. Seit 2022 ist sie mit ihrem Podcast „MAMA HALBLANG!“ selbstständig.