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Liberale in allen Parteien: Erkennt Euch selbst!

von Alexander Spreinat und Alexander Bagus


Im Jahr 2022 ist etwas Bemerkenswertes geschehen: Bei den Sprachkritikern der Floskelwolke wurde das Wort „Freiheit“ auf Platz 1 der „Floskel des Jahres“ gewählt. Als Begründung hieß es, der Begriff werde genutzt, um eigentlich egoistischen Forderungen Vorschub zu leisten. In die gleiche Kerbe schlagend twitterte die grüne Lokalpolitikerin Monika Herrmann am 12. März 2023 „[…] Freiheit und Eigenverantwortung – beides Synonyme für eine unsolidarische und egoistische Gesellschaft.“ Das könnte man als Liberaler als bedauerliche Einzelfälle abtun, allerdings schwingt tatsächlich eine grundsätzliche Skepsis nicht nur der FDP, sondern sogar Liberalismus und Freiheit als solchen entgegen.

Lauter werdende Vorboten dieser derzeit sehr spürbaren Stimmung gab es bereits Ende der 10er-Jahre dieses Jahrhunderts, besonders im Rahmen der sich verstärkenden Diskussionen über mehr Klimaschutz. Richtig unter Beschuss geriet der Begriff der Freiheit ab 2020 im Rahmen der Covid19-Pandemie. Artikel in großen Medien werden seitdem betitelt mit „Freiheit auf Gedeih und Verderb“ (SZ, 10. März 2022) oder „Auf bedenklicher Freiheitsmission“ (Tagesspiegel, 15. März 2021). Jüngst erfuhren wir beim MDR, dass Freiheit zunehmend als „Kampfbegriff gegen Klimaschutz-Maßnahmen ins Feld geführt“ werde (MDR Aktuell, 17. März 2023).


Freiheit in der Defensive


Angesichts dieser Rezeption des Freiheitsbegriffs kann es nicht verwundern, wenn die Partei, die sich in Deutschland die „Freiheit“ auf die Fahnen geschrieben hat, nämlich die FDP, sobald sie in Regierungsverantwortung kommt, wahlweise als Bremser oder Störer wahrgenommen wird. Parallel wird medial gut wahrnehmbar von alten Granden wie Gerhart Baum betont, was der Liberalismus sowieso sei, nämlich sozial und ökologisch. Auch Meinungsartikel in der FAZ von Professoren und FDP-Staatssekträterinnen erinnern daran, dass Freiheit „keine Lizenz zur Verantwortungslosigkeit“ sei („Mit Vor-Sicht in den Rückspiegel“, FAZ, 27. Februar 2023).


Liberale bringen, demütigt gebückt, die Botschaft hervor: Bitte, bitte, liebe Leute, wir sind keine Anarchisten, die den Sozialstaat abbauen und eine Schreckensherrschaft der Gewalt und Rücksichtslosigkeit etablieren wollen. Wer die politisch-mediale Landschaft der vergangenen Jahre aufmerksam verfolgt hat, muss sich so unweigerlich fragen: Welcher deutsche Liberale von Relevanz hat sowas denn jemals gefordert?


Wie konnte es so weit kommen, dass sich die Freiheit so in die Defensive hat drängen lassen, dass sie ihre grundsätzliche Kompatibilität mit Ökologie und dem Sozialen betonen und ihren eigenen Kern regelrecht entschärfen muss? Und das gerade in dem Land, in dem sonst bei jeder Gelegenheit stolz nicht etwa auf die „Ökologisch-demokratische“ oder die „sozial-demokratische“, sondern auf die berühmte „Freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO) verwiesen wird. Wie kann es sein, dass freiheitliche Ideen anscheinend nur in der einen freiheitlichen Partei und bei ihren Anhängern Anklang finden, wo doch im Grunde alle erlaubten Parteien und politischen Strömungen in Deutschland qua Definition fest auf dem Boden der FDGO stehen müssen?


Liberalismus als DNS aller Parteien?


„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So macht schon Artikel 1 unseres Grundgesetzes eines sehr deutlich: Das Individuum ist das höchste Gut, das unsere Verfassung kennt. Es steht – im wahrsten Sinn – an erster Stelle. Von ihm leitet sich alles Weitere ab. Hinzu kommt: Dieser Artikel gehört zum unveränderlichen Kern des Grundgesetzes. Nur mit einer neuen Verfassung wäre eine Abkehr von diesem individualistischen Kern denkbar.


Wer sich also zum Grundgesetz bekennt, wer sich im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen will, der kann gar nicht anders als sich individualistisch, als sich grundsätzlich liberal auszurichten. Deswegen spricht man auch – zu Recht – von der liberalen Demokratie. Grundideen des Liberalismus sollten daher – eigentlich – zur DNS aller Parteien des demokratischen Spektrums gehören. Die traurige Realität sieht jedoch so aus, dass die tagespolitischen Debatten das genaue Gegenteil beweisen – in Einzelfällen sogar bis in die Reihen der Partei, die einst „Die Liberalen“ im Untertitel trug.


Beweispflicht bei Grundrechtseinschränkungen


Zurück zu unserem Grundgesetz: Die im Anschluss an Artikel 1 formulierten Schutz- und Freiheitsrecht jedes und jeder Einzelnen können zwar eingeschränkt werden. Jedoch ist jede Einschränkung in der Beweispflicht – zumindest sollte es so sein. Doch Tag für Tag wird immer wieder deutlich, dass es in vielen Parteien Politikerinnen und Politiker gibt, die das anders sehen (wollen) – und verkennen so den Kern unseres Gemeinwesens. Denn immer wieder machen es Landesverfassungsgerichte oder das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich deutlich: Am Schutz des Individuums und seiner Rechte kommt man nicht vorbei.


Höhlt dann nicht doch steter Tropfen den Stein? Können nicht immer mehr Gesetze, die am Ende von den Verfassungsgerichten nicht vollends ausgehebelt werden, sondern die man trotz Einschränkungen bestehen lässt, doch das individualistische Fundament unterminieren? Es wäre auf jeden Fall naiv, diese Gefahr zu negieren.


Errungenschaften des Liberalismus unter Beschuss

Hält man sich die Geschichte des Liberalismus und seinen Siegeszug vor Augen, erstaunt es umso mehr, dass er einen so schweren Stand in Deutschland hat, besonders da viele seiner Errungenschaften wie selbstverständlich in unseren Alltag integriert sind.


Das Eigentumsrecht gilt z. B. oft als „Privileg“ von Reichen und Konzernen, und nicht etwa als Schutzrecht gegenüber einem übergriffigen Staat; so stimmt beispielsweise fast jeder zweite Berliner zu, wenn er gefragt wird, ob Wohnungskonzerne enteignet werden sollen (Tagesspiegel, 21. April 2021).


An anderer Stelle wird schon das vorsichtige Vorfühlen, ob man einen Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk mit jährlichen Einnahmen von über acht Milliarden Euro unbedingt benötigt, oder ob es auch etwas weniger sein darf, schnell in die rechte bis demokratiefeindliche Ecke gestellt.


Ja, linke und etatistische Bestrebungen hat es immer in Deutschland gegeben. Erstaunlich ist aber, wie groß teilweise die Zustimmung ist und für wie irrelevant das liberale Fundament für funktionale Rechtsstaaten und Gesellschaft gehalten wird. Doch was erstaunt, ist nicht unerklärlich, konnten sich doch gerade die zwei größten linken Parteien in Deutschland, besonders gesellschaftlich verankern.


Erfolge anderer im vorpolitischen Raum


Dass eine breite Verankerung politischer Strömungen in der Gesellschaft grundsätzlich in Deutschland nicht nur möglich, sondern auch Grundlage für politischen Erfolg ist, haben die Sozialdemokratie und jüngst die Grünen bewiesen.

Der Erfolg der Sozialdemokratie als politische Strömung ist eng verbunden mit einem bunten Vereins- und Verbändeleben um sie herum wie z.B. Gewerkschaften und Arbeitervereine. Die

gegenseitige Unterstützung und Vernetzung führte hier zu Wahlerfolgen, auch trotz der Sozialistenverfolgung unter Bismarck. Über den Ersten Weltkrieg zur Weimarer Republik kam die SPD zu ihrer Rolle als staatstragende Partei. Mit dem sozialen Aufstieg vieler Menschen in den ersten Dekaden der Bundesrepublik wurden so dann sozialdemokratische Themen Bestandteil der Überzeugungen der Mehrheitsgesellschaft.


Bei den Grünen verhält es sich ähnlich. Zwar sind die ersten umweltpolitischen Maßnahmen in den 1970er Jahren unter FDP-Führung, inkl. dem ersten umweltpolitischen Parteiprogramm, ergriffen worden, es gereichte ihr dennoch nicht zum Vorteil. Die Angehörigen der sich in dieser Dekade entwickelnden Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung entstammten oft ganz anderen sozialen Milieus. Diese konnte die FDP nicht erreichen. Anhand der Mitgliederzahlen des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) lässt sich der Aufstieg der Grünen gut nachvollziehen: Erst der große Aufschwung Ende der 1980er Jahre bis 1995, dann die weitere Expansion mit Beginn der 2010er Jahre. Parallel dazu nahmen jeweils auch die Wahlerfolge der Grünen zu. Zahlreiche Themen der Grünen werden heute von vielen Bürgerinnen und Bürgern und auch anderen Parteien in ihrer Zielsetzung geteilt.


An diesen beiden Beispielen zeigt sich: Umweltschutz, gar Ökologismus sowie die Sozialdemokratie haben ihrerseits einen Grundkonsens innerhalb der deutschen Bürgergesellschaft erreicht. Das gilt vor allem für die SPD, hat sie doch damit zu kämpfen, dass sie sich „zu Tode gesiegt“ habe. Diese „Siegesserie“ stellt im Fall der SPD höchstens die Notwendigkeit der Partei im speziellen, nicht aber die Notwendigkeit sozialer Systeme und Mechanismen in Frage. Dies ist fundamental unterschiedlich bei den Errungenschaften und Idealen des Liberalismus in Deutschland – doch anders in der Schweiz.


Liberales Paradies Schweiz?


In der Schweiz ist man als Deutscher, ob der vielen liberalen Wahlmöglichkeiten überrascht. Nicht nur ist die FDP Schweiz eine viel stärkere Kraft als die FDP in Deutschland, es haben auch die „Grünen“ schwer mit den „Grünliberalen“ zu kämpfen, die vergleichbare Ergebnisse erzielen wie die Grünen. Und auch die SVP betont immer wieder (ob zu Recht oder Unrecht), eine in Teilen (wirtschafts-)liberale Partei zu sein. Einzig die Sozialdemokratische Partei (SP) schert ein bisschen aus. Die FDP in der Schweiz hat obendrein annähernd 100.000 Mitglieder, was mehr ist als die deutsche FDP.

Auch der vorpolitische Raum ist z. B. mit dem Liberalen Institut, der Libertären Partei und erstaunlichen Initiativen gut besetzt. So gab es zum Beispiel 2018 die No-Billag-Initiative (initiiert von den Jungfreisinnigen, mitausgearbeitet vom damaligen Vizepräsidenten des Liberalen Instituts, Olivier Kessler), die die Abschaffung der Rundfunkgebühren (vergleichbar mit dem deutschen Rundfunkbeitrag) zum Ziel hatte. Die Initiative ist mit ca. 70 Prozent Nein-Stimmen klar gescheitert, was auch auf die Vielsprachigkeit der Schweiz zurückgeführt wurde. Allerdings stelle man sich dieses Szenario nur mal in Deutschland vor, denn 70 Prozent Nein-Stimmen bedeuten umgekehrt, dass 30 Prozent mit „Ja“ gestimmt haben.


Überschaubarer liberaler vorpolitischer Raum in Deutschland


Wenn wir uns den deutschen vorpolitischen Raum anschauen, sieht es eher karg aus. Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit bespielt zwar den vorpolitischen Raum, ist jedoch als partei-nahe Stiftung in ihrem Wohl und Wehe an die deutsche FDP gebunden. Daneben existiert in Deutschland die längst verbrannte Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, die einen eher einseitigen Fokus auf Wirtschaftsliberalismus hatte, sowie das kaum bekannte Nous-Netzwerk, das sich explizit als akademisch versteht. Hinzu kommt die Denkfabrik „Prometheus – Das Freiheitsinstitut“, die ebenfalls außer Spezialisten niemandem ein Begriff sein dürfte. Einzig das „Zentrum Liberale Moderne“, gegründet vom Grünen Ralf Fuecks und seiner Frau Marieluise Beck, wirkt etwas „frischer“ und erhält etwas mehr mediale Aufmerksamkeit. Man könnte noch die Liberalen Hochschulgruppen nennen, aber an deutschen Hochschulen ist der Liberalismus zumindest in der Regel unter den Studentinnen und Studenten alles, aber kein Platzhirsch. Das ist das eigentliche Versäumnis: Wie soll die breite Bevölkerung in Deutschland positiv in Kontakt mit der Idee des Liberalismus kommen?


Schaut man sich in der Geschichte liberal-demokratischer Strömungen um, so war der Höhepunkt dieser im 19. Jahrhundert. Hier waren es fast schon Massenbewegungen, eng verknüpft mit dem Nationalstaatsgedanken. Davon hebt sich die britische Anti-Zollbewegung ab, die sich in der Gründung der Anti-Corn Law League (ACLL) manifestierte. Mit Zweigvereinen und Versammlungen landesweit kann dieser Protest für Freihandel in Großbritannien als liberale Graswurzelbewegung gelten, die bis zur Erreichung ihres Ziels rund 15 Jahre – also einen sehr langen Atem – benötigte. Nach Erreichen ihres Ziels wurde die ACLL überflüssig und löste sich selbst auf.

Als weiteres Beispiel außerparlamentarischer liberaler Bewegungen wird unter Liberalen öfters das in London ansässige Institute of Economic Affairs (IEA) angeführt. Das IEA gilt als älteste marktliberale Denkfabrik Großbritanniens und wurde 1955 gegründet. Als Denkfabrik mobilisierte das IEA nie Massen, sondern fokussierte sich auf die intellektuelle Schicht. Mit seinen Publikationen und Aktivitäten legte das IEA die Grundlagen, sodass marktliberale Positionen ab den 1980er Jahren mehrheitsfähig wurden und in der Politik Margret Thatchers sichtbar wurden.


Doch daran, dass sich die Mehrheiten gewandelt haben und Polemiken bis Anfeindungen gegenüber Margret Thatcher auch über ihren Tod hinweg andauern, zeigt sich, dass ein gesellschaftlicher Grundkonsens doch anders aussieht.


Von den Köpfen in die Herzen


Der politische Liberalismus in Deutschland sollte sich nicht in erster Linie fragen, wie man eine liberale Partei in den Bundestag bekommt oder wie man in welche politische Richtung über welche Veränderung welches Zugeständnis ggf. „anschlussfähig“ wird.


Nein, die Fragen sollten andere sein: Wie kriegt man den Liberalismus aus den Köpfen von historischen (Vor-)Denkern in die Herzen der Menschen und damit nicht nur in erklärte liberale Parteien, sondern in alle Parteien, die in Anspruch nehmen, auf dem Boden der FDGO zu stehen? Dafür braucht man nicht nur das Engagement in Organisationen, in denen selbsterklärte Liberale unter sich bleiben, sondern den breiten Kontakt mit Menschen; raus aus Parteigremien, rein in Vereine und Verbände.


Möglichkeiten für Initiativen gibt es etliche, egal ob Kritik am ausufernden Staat, dem Bewahren von Freiheiten in Angesicht von Krisen (Corona, Klimawandel), dem Etablieren von Bürgerrechten (vielleicht auf EU-Ebene?), Datenschutz oder Umgang mit Daten generell, Gründergeist. Wie schafft man ein Bewusstsein für Errungenschaften und Notwendigkeiten des Liberalismus? Wo sind moderne liberale Intellektuelle und Autoren, wer könnte beispielsweise der deutsche Mario Vargas Llosa sein?


Kein Projekt für eine Legislaturperiode


Was klar sein muss: Das ist ein langfristiges Projekt, was Liberale viel zu lange schon verschlafen haben – anders als oben gezeigt SPD und Grüne. Man redet nicht über vier, fünf Jahre, man darf nicht in Legislaturperioden denken. Und man muss bereit sein zu akzeptieren: Ein anders oder „weniger klassisch“ verstandener Liberalismus von Personen ist nicht per se „illiberal“, erst recht nicht „schädlich“ für den Liberalismus, nur weil hier oder da eine Grenze anders gezogen wird. Ein Sozialliberaler bei der SPD, ein Grünliberaler bei den Grünen ist im Zweifel für den parlamentarischen Liberalismus der größere Gewinn als ein „Brutalliberaler“ in der FDP.


Das ist die große Aufgabe: Den Liberalen in allen Parteien die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu erkennen.


 

Alexander Bagus ist Jahrgang 1983, Geburtsstadt München, und deutlich süddeutsch geprägt. Er hat von 2006 bis 2010 in Würzburg Neuere und Neueste sowie Mittelalterliche Geschichte und Öffentliches Recht studiert und als Magister Artium abgeschlossen. Beruflich ist er bei der Bundeswehr tätig. Seit 2017 steht er dem Verband liberaler Akademiker als Präses vor.



Alexander Spreinat Jahrgang 1995, hat einen Master in Chemie von der Universität Göttingen und arbeitet derzeit an seiner Promotion. Er brennt für die Wissenschaft und den Liberalismus und hat (natürlich) selbst ein paar „alte Schinken“ gelesen. Wenn er seine Zeit nicht gerade im Labor verbringt, geht er seiner zweiten großen Leidenschaft nach – der Fotografie.hatte.

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