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Zukunft und Zuversicht brauchen Krisenaufarbeitung

von Simon Schütz



Diese Ausgabe beschäftigt sich mit Zukunftsvisionen – aus den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Bereichen. Der Blick ist also auf das gerichtet, was vor uns liegt. Perspektiven für unser Zusammenleben, unser Wirtschaften oder unser Wirken auf der internationalen Bühne.


Trotzdem beginnt diese Ausgabe mit der Vergangenheit. Keine Sorge, es geht nicht um das Festhalten an dem, „was schon immer so war“ oder unverhandelbare Dogmen. Es geht vielmehr um eine Bewältigung der Vergangenheit, genauer gesagt die Analyse der Krisenbewältigung und entsprechende Lerneffekte daraus. Der dänische Philosoph Søren Aabye Kierkegaard sagte einmal treffend: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“

Die Frage ist, inwieweit wir die Chance nutzen, den Umgang mit vergangenen Krisen im Rückblick zu verstehen, zu analysieren und daraus zu lernen – für die Zukunft. Fest steht: Krisen hatten wir in den vergangenen Jahren tatsächlich in Dauerschleife – nicht umsonst sprechen einige schon vom Zeitalter der Polykrise. Ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie oder der schreckliche Krieg in der Ukraine – Krisenbewältigung ist inzwischen Alltag. Bei der Aufzählung wird ebenso deutlich, dass Krisen in ähnlicher Form wiederkehren – und viele Krisen eigentlich nie wirklich bewältigt wurden, sondern nur aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden sind. Die Analyse der vermeintlichen Krisenbewältigung – oder besser gesagt der Krisenstrategie – findet den Weg in dieses Ausmaß öffentlicher Aufmerksamkeit noch seltener.

Krise und Kommunikation


Warum ist das so? Das lege auch an den Zusammenhängen von Krise und Kommunikation, erklärt Prof. Dr. Frank Bösch, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam: „Krisen basieren immer auch auf kommunikativen Zuschreibungen: Nicht die absolute Höhe einer Inflation, Vireninfektion oder Flüchtlingszahl bestimmt, ob eine Krise vorherrscht, sondern die öffentliche Bewertung dessen. Krisen werden ausgerufen und als solche angesehen, um eine grundlegende Entscheidung herbeizuführen.“


Wenn eine Krise nicht mehr kommuniziert wird und damit scheinbar ‚vorbei ist‘, besteht das Problem als solches oft weiter. Es wird nur nicht mehr als dringlich angesehen. Der Umgang mit vergangenen Krisen ist allein schon deshalb auszuwerten, um für die Bewältigung neuer Krisen zu lernen.“ Bösch selbst ist der Meinung, dass die Krisenbewältigung in Medien und Parlamenten durchaus vielfältig thematisiert werde: „Ein Grundproblem ist eher, dass die Ergebnisse der Krisenentscheidungen kaum das Interesse der Öffentlichkeit finden und die Nachhaltigkeit im Alltag begrenzt ist.“

Logischerweise ist die akute Krise von maximalem öffentlichem Interesse. Und bevor man den Umgang mit einer Krise öffentlich rückblickend analysieren und entsprechend reflektieren kann, liegt der Schwerpunkt – von Medien, Politik und Gesellschaft – schon auf der nächsten Krise.


Pflicht der Medien

„Krisenbewältigung, bzw. die Lehren aus gesellschaftlichen Großkrisen zu ziehen, ist nicht die Stärke der Demokratie, die ja fast immer nur auf den nächsten Wahltermin schielt. Dabei wäre das bitter nötig. Aus der Ölkrise der siebziger Jahre hatte man schon nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen, ebenso nicht aus den imperialen Machtdemonstrationen von Putins Russland nach den beiden Tschetschenienkriegen, der Georgienkrise, der Krimannexion und der informellen Besetzung der Ostukraine. Und selbst die Bankenkrise scheinen wir nur unvollkommen verarbeitet zu haben, wie zuletzt der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank zu zeigen scheint“, urteilt Politikwissenschaftler Jürgen Falter.

Er sieht die Journalistinnen und Journalisten in der Pflicht: „Gefordert sind, was die Krisenbewältigung angeht, alle, allen voran die Medien, welche die Politik antreiben und die Gesellschaft sensibilisieren müssen. Denn von selbst geschieht hier nichts oder doch zu wenig. Es ist ein wenig, wie wir uns selbst verhalten, wenn wir eine schwere Krankheit überwunden haben. Dann rauchen und trinken wir trotzdem im Allgemeinen weiter, fahren nach einem Unfall weiter Auto und machen bei unseren Investitionen zwar nicht dieselben, aber doch ähnliche Fehler wie zuvor“, veranschaulicht Falter diese sich wiederholende Systematik. Seine klare Empfehlung: „Ohne eine systematische Aufarbeitung der Ursachen von Krisen und von Wegen, eine Wiederholung zu vermeiden, schlittern wir nahezu wehrlos in die nächste und übernächste.“ Eigentlich logisch – wieso funktioniert es dann nicht? Falter glaubt, es sei „oft die Ideologie, die einem Scheuklappen verpasst, oft aber auch einfach gedankliche Bequemlichkeit und der Drang, weiter zu wursteln, denn sichtlich ist es ja zuvor noch mal gut gegangen und man lebt noch.“


Unbewältigte Krisen

Ideologie und Bequemlichkeit also? Und wäre die Analyse der Krisenbewältigung nicht zwangsläufig mit der Erkenntnis verbunden, dass die Krise gar nicht wirklich bewältigt wurde? Und wenn sie doch überwunden ist, dann wird der Blick in die Vergangenheit den meist noch gleichen amtierenden Politikerinnen und Politikern einen Spiegel vorhalten, den man eigentlich schon zur Seite gelegt hatte. Doch nur weil etwas unbequem ist, sollte es keinesfalls vermieden werden.


Das ist so grundsätzlich auch nicht der Fall. Tatsächlich haben die großen Krisen der vergangenen Jahre immer einen entsprechenden Untersuchungsausschuss zur Folge gehabt und wurden medial auch hier und da nochmals kritisch aufgearbeitet. Doch wie bereits anfangs erwähnt, ist die (mediale) Aufmerksamkeit hier natürlich nicht vergleichbar mit der zur akuten Krisenzeit. Somit findet die notwendige Auseinandersetzung in der Breite der Gesellschaft viel zu selten oder gar nicht statt. „Wenn die Medien Krisenverarbeitung tiefer thematisieren würden, käme die Politik nicht drumherum – und umgekehrt. Doch die Augenblickshektik lässt (gefühlt) keine Zeit dafür. Es fehlt eine Elite, die diese Debatte führt – und die Gesellschaft zwingt, diese Debatte zu führen“, erklärt Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld.


Steckt hinter diesem Prinzip der vermeintlich unzureichenden Aufarbeitung vielleicht noch mehr als simple mediale Aufmerksamkeitslogik? Fehlt es vielleicht auch an den notwendigen Fähigkeiten und Voraussetzungen für den kritischen Rückblick mit entsprechenden Schlussfolgerungen?


Notwendige Einsichten

Tatsächlich steht außer Frage, dass die Probleme, die akute und (erwartbare sowie vermeintlich überraschende) Krisen verursachen, immer komplexer werden. Und dass jede Krise neue gesellschaftliche Verwerfungen mit sich bringt – oder bereits vorhandene Risse verstärkt. Im Umkehrschluss heißt das auch: Ohne Krisenaufarbeitung können diese Verwerfungen nicht aufgelöst werden.

Was muss also passieren? Die Einsicht, dass in einer akuten Krisenlage auch falsche Entscheidungen getroffen werden, ist Grundvoraussetzung. Nur so ist ein offener Umgang möglich, der nicht zum Ziel hat, ‚Schuldige‘ zu finden, sondern auf neue und wiederkehrende Krisen souverän zu reagieren. Und auch die Kommunikation ist entscheidend. Hier gibt es de facto mangelhafte Fähigkeiten. Wenn der generelle Kompass, die langfristige Strategie, die Antwort auf die großen Fragen der Zeit fehlen, oder nicht öffentlich debattiert werden, wie soll dann die Vergangenheit aufgearbeitet werden, ohne dabei in eine Art Sprachlosigkeit zu verfallen? Was ist damit gemeint? Ein Blick auf die aktuelle Situation sorgt für Klarheit. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg und die geopolitischen Folgen spricht man in Deutschland von einer „Zeitenwende“. Doch die genaue Ausprägung dieser Zeitenwende bleibt zunächst unklar.


„Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wollen eine Richtung erkennen – aber diese Antwort wird ihnen nicht gegeben“, erklärt Weidenfeld. Die Menschen hätten Sehnsucht nach Orientierung – doch die Politik erschöpfe sich im situativen Krisenmanagement und verliere sich zunehmend in strategischer Sprachlosigkeit: „Unendlich viele Vorhaben und Themen werden durch die Instanzen geprescht – doch all diesen Themen fehlt ein Überbau und eine entsprechende Einordnung. Warum hat welches Gesetz bzw. Vorhaben welchen Stellenwert? Diese Antwort wird von der Politik nicht gegeben“, so Weidenfeld. Und genau diese Antworten können nur gegeben werden, wenn man sich mit den Krisen der Vergangenheit auseinandersetzt: Denn letztlich sind die politischen Vorhaben eine Reaktion auf diese Krisen – sollen dabei helfen, Krisen in der Zukunft zu verhindern.


Komplexität und Konfusion


Dass diese Auseinandersetzung zumindest in der breiten Öffentlichkeit ausbleibt, hat Folgen. So wird die Komplexität der Krisen in der Vergangenheit – und somit auch deren Verarbeitung und die Vorbeugung vermeintlich neuer Krisen – nicht ausreichendentschlüsselt.

„Dieser Missstand führt dazu, dass Menschen sich von den konkreten politischen Inhalten entfremden, da sie die Inhalte schlichtweg nicht mehr verstehen. Das Unverständnis kreiert außerdem ein Gefühl der Angst“, erklärt Weidenfeld. Die Menschen hätten zunehmend „Orientierungsdefizite“: „Eine Ära der Komplexität und Konfusion, in der das notwendige Erklären von politischer Seite ausbleibt, führt zu enormen Vertrauensverlusten bei der Bevölkerung“, so Weidenfeld.

Das alles macht deutlich, wie wichtig es ist, dass die Gesellschaft, angetrieben von Medien und Politik, sich mit der Art und Weise der Krisenbewältigung im Nachgang kritisch auseinandersetzt. Dabei geht es um weit mehr als um Lerneffekte für die Zukunft: Es geht letztlich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und darum, ein breites Verständnis für die Herausforderungen unserer Zeit zu generieren, um sie dann erfolgreich zu bewältigen.

Bleibt dies aus, wird die schon jetzt zu beobachtende Zukunftsmüdigkeit immer stärker. Tatsächlich ist sie in immer mehr Gesellschaften spürbar – als Folge eines Krisenjahrzehnts, das die gesellschaftlichen Konfliktlinien nachhaltig vergrößert hat. Unter diesen Bedingungen ist es natürlich ungleich schwieriger, positive Zukunftsbilder zu zeichnen. Doch diese Zukunftsentwürfe sind ebenso entscheidend, um gegenwärtige Krisen zu überwinden. Zukunftsentwürfe, die dabei helfen, gesellschaftliche Zerwürfnisse zu überwinden und nachhaltige Zuversicht vermitteln. Und genau damit befasst sich diese Ausgabe der „Liberalen Perspektiven“.

 

Simon Schütz war bis 2020 als Politik-Journalist bei BILD und bei dem amerikanischen Sender National Public Radio (NPR) tätig. Durch Journalistenstipendien (Arthur Burns Programm, RIAS Programm) war er außerdem als Journalist in New York City und Tulsa tätig. Für BILD war er 2016 als US-Korrespondent in Washington D.C. und berichtete über den Wahlkampf sowie die Wahl Trumps. Außerdem leitete er im Sommer 2019 als Chef vom Dienst die Nachtredaktion von BILD in Los Angeles. Aktuell arbeitet Herr Schütz als Leiter der Pressestelle des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) e.V.

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