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Liberale Perspektiven meets Christian Lindner

Interview mit Christian Lindner geführt von Simon Schütz




Christian Lindner (*7. Januar 1979) ist Bundesminister der Finanzen und Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Dezember 2013 wurde Christian Lindner zum Bundesvorsitzenden der Freien Demokraten gewählt. Die Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag führte er vier Jahre als Vorsitzender (2017-2021) und etablierte sie als konstruktive Oppositionskraft. Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte die FDP eines der besten Ergebnisse ihrer Geschichte. Am 8. Dezember 2021 wurde Christian Lindner Bundesminister der Finanzen. Christian Lindner gehört der FDP seit 1995 an. 2000 wurde er als Abgeordneter erstmals in den nordrhein-westfälischen Landtag gewählt. Von 2012 bis 2017 war er Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion NRW. Der Wermelskirchener studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Philosophie an der Rhein-ischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Von 1997 bis 2004 war Lindner Inhaber einer Werbeagentur sowie Mitgründer eines Internet-Unternehmens.



Liberale Perspektiven (LP): Finanzminister Christian Lindner: Was bedeutet für Sie Moral und wie wichtig ist sie in der Politik?

Christian Lindner (CL): Individuelle Moralvorstellungen, also aus unserer ethischen Haltung erwachsende Normen und Handlungsrahmen, sind in einem weltanschaulich neutralen Staat grundsätzlich Privatsache. Gleichzeitig braucht aber auch die liberale Gesellschaft einen über Milieugrenzen hinweg akzeptierten Wertekanon, der den Zusammenhalt auch in modernen, multikulturellen und zuweilen fragmentierten Gesellschaftsstrukturen erhalten kann. In unserem Verfassungsstaat ergibt sich die ethische Grundlage unseres Zusammenlebens aus unserem Grundgesetz. Es ist kein nacktes Regelwerk, sondern eine objektive Werteordnung, in der sich die ethischen Maxime unserer Gesellschaft ausdrücken: die Würde und die Freiheit des Einzelnen, Demokratie und Gleichberechtigung, Eigentum und Rechtsstaatlichkeit.

Dieser Wertekanon muss auch Maßstab politischen Handelns sein. Hier liegen die Dinge allerdings komplexer: Wer Verantwortung für das Land übernimmt, kann sich nicht einfach mit seinem "guten Willen" oder seinen ethischen Beweggründen rechtfertigen, sondern muss zuvorderst die Konsequenzen seines Handelns gegenüber der Gesellschaft verantworten. Politik agiert also in einem moralischen Spannungsfeld: Einerseits braucht sie ethisch vertretbare Zielsetzungen - den "richtigen Kompass" - andererseits müssen auch die eingesetzten Mittel einer moralischen Betrachtung standhalten. Der Soziologe Max Weber unterschied in diesem Zusammenhang einmal zwischen einer Gesinnungsethik, für die um jeden Preis die Motive des Handelns zählten, und der Verantwortungsethik, die auch die praktischen Folgen edel gemeinter Taten zu berücksichtigen habe. Leider gibt es gerade in politisch linken Kreisen einen zunehmenden Trend, das eigene Handeln nur nach den Maximen des vermeintlich guten Willens und der persönlichen Gesinnung zu beurteilen und die tatsächlichen Konsequenzen der eigenen Politik auszublenden. Das ist keine heilsame Entwicklung.



LP: Ob Deutschland oder Europa - wir sprechen immer wieder von einer wertegeleiteten Politik. Steht das im Widerspruch zur Realpolitik?

CL: Ich bin selbst in die Politik gegangen, weil mir bestimmte Überzeugungen und Werte wichtig waren: die Freiheit des Einzelnen, Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen, Offenheit für Fortschritt und Veränderung. Eine Politik, die sich von jeglichen gesellschaftlichen Werten entkoppelt, würde zu Recht keine Akzeptanz finden und sich ihres eigenen Sinns berauben. Gute Politik muss sich aber immer an ihren Ergebnissen und nicht nur an ihren guten Vorsätzen messen lassen.



LP: Zuletzt wurde in der politischen (und medialen) Debatte fast jedes Thema moralisiert - ist das ein Phänomen unserer Zeit? Verhindert dieser Ansatz pragmatische Entscheidungen?

CL: In Teilen der politischen Debatte wird immer stärker versucht, eigene moralische Vorstellungen doktrinär durchzusetzen und anderen aufzuzwingen. Ein solcher Moralismus verstärkt gesellschaftliche Spannungen bis hin zur Spaltung und macht lösungsorientierte Politik immer schwieriger. Mehr noch: Moralismus in der Politik führt nicht selten dazu, dass die ethisch richtigen Ziele erst recht nicht erreicht werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Klimapolitik. Ich kann verstehen, dass der Verzicht auf eigene Freiheiten, Mobilität und Wohlstand für einige moralisch geboten erscheint. Doch dieser Weg kann international nicht erfolgreich sein, denn viele Gesellschaften haben bislang noch gar keinen Wohlstand, auf den sie verzichten könnten. Mit Klimaschutz durch Askese, Verbot und Verzicht werden wir vielleicht "Moral-Weltmeister", aber niemand wird uns folgen. Ein Vorbild für die Welt werden wir nur, wenn wir es schaffen, Wohlstand und freiheitliche Lebensweise durch technologischen Fortschritt mit Klimaschutz zu verbinden. Wer solche pragmatischen und am Ende erfolgreichen Ansätze moralisch diskreditiert, weil die Zwischenschritte nicht der eigenen Gesinnung entsprechen, dem geht es am Ende nicht um das gemeinsame Ziel, sondern um Ideologie.



LP: Apropos Pragmatismus: Gerade in der internationalen Politik kann ein (zu) hoher Anspruch bei moralischen Fragen dazu führen, dass Verhandlungen ergebnislos bleiben. Wie viel Pragmatismus ist in solchen Situationen angebracht?

CL: Auch Außenpolitik muss von unseren Werten geleitet werden. Schließlich liegt es im nüchternen Interesse unseres Landes, dass unsere gesellschaftlichen Werte global nicht durch Systemrivalen wie die Volksrepublik China unter Druck geraten. Doch was bedeutet das konkret: Hören wir auf mit autoritär geführten Staaten zu handeln? Isolieren und entkoppeln wir uns von denen, die unsere Werte und Standards nicht teilen? Ein solcher Weg würde den Westen und damit unseren Wertekanon global in die Bedeutungslosigkeit führen. Ich rate uns allen zu Realismus und strategischer Weitsicht. Deshalb müssen wir auch mit unbequemen Partnern im Austausch bleiben, Abhängigkeiten reduzieren und diejenigen unterstützen, die sich selbst auf den Weg zu unserem Wertesystem machen. Dann erst erhalten wir die Möglichkeit, eine wertegeleitete internationale Ordnung, die auf Freiheit, Ausgleich, Selbstbestimmung und Verständigung basiert, wirksam verteidigen zu können. Und dann entspricht unsere Politik nicht nur im Vorsatz, sondern auch in den Ergebnissen unseren Werten.



LP: Wer Einfluss haben will, muss relevant sein. Deutschlands Einfluss in dieser Welt basierte immer auch auf dem Erfolg als Wirtschaftsnation. Ist dieser Einfluss zunehmend in Gefahr? CL: Wir stehen an einer Weggabelung: Wenn wir weitermachen wie die letzten zehn Jahre, dann werden wir den schleichenden Abstieg unseres Landes erleben. Oder wir entscheiden uns, wieder vorne in der Welt mitspielen zu wollen. Dann müssen wir alles unternehmen, was Wachstum und Innovation ermöglicht. Dafür treten wir auch in der Bundesregierung ein. Klar ist: Wir haben geradezu eine Verantwortung, Exportnation zu bleiben. Denn deutsche Technologien können dazu beitragen, eine Lebensweise der Freiheit und des wirtschaftlichen Fortschritts zu verbinden mit Ressourcenschonung und Klimaschutz. In dieser Frage hat Deutschland schon jetzt eine Vorreiterrolle. Viele saubere Technologien werden in Deutschland entwickelt und produziert - und dann exportiert. Doch die Rahmenbedingungen haben sich nach Jahren der Reformunwilligkeit und angesichts der multiplen Krisen verändert. Wir brauchen jetzt eine "Wirtschaftswende" für den Standort Deutschland.



LP: In den vergangenen Monaten bzw. Jahren haben sich die geopolitischen Verhältnisse stark verändert. Es gibt beispielsweise mit China einen sehr mächtigen Akteur auf der Weltbühne mit anderem moralischem Anspruch. Ist es unsere Aufgabe, von unserem Modell zu überzeugen? Und wenn ja, wie?

(CL): China ist ein systemischer Rivale. Wir brauchen uns nicht mehr der Illusion hingeben, dass wir China durch wirtschaftliche Verflechtung und gutes Zureden in eine demokratische Gesellschaft verwandeln könnten. Ich habe gut 16 Jahre Erfahrung im Austausch mit chinesischen Offiziellen und weiß daher, dass man sich in Peking eher gewundert hat, wenn Deutschland zu samtpfotig aufgetreten ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir diplomatische Kanäle nicht nutzen sollten. Gerade weil China systemischer Rivale ist, muss mit China über das Völkerrecht und über Menschenrechte gesprochen werden. Außerdem müssen wir wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten - gerade in Fragen kritischer Infrastruktur in Europa - gegenüber der Volksrepublik reduzieren. China bleibt ein gigantischer Binnenmarkt, zu dem wir Handelsbeziehungen erhalten müssen. Aber auf Dauer müssen unsere Unternehmen ergänzend andere Weltregionen in den Blick nehmen, etwa Nord-, Südamerika und Afrika. Aufgabe der Politik ist es, dafür zu sorgen, dass dort Handelsschranken abgebaut werden.



LP: Als Politiker steht man besonders im Rampenlicht - hat man somit zwangsläufig eine moralische Vorbildfunktion?

(CL): Politiker müssen sich an ethischen und moralischen Standards messen lassen. Aber die Vorstellung, dass die Menschen ihr moralisches Verhalten an Politikern ausrichten oder gar ausrichten sollten, erschiene mir etwas paternalistisch. In Wahrheit ist es zum Glück umgekehrt: Wo Politiker gesellschaftlichen Vorstellungen und moralischen Maßstäben nicht entsprechen, werden sie in der Demokratie vom Souverän abgewählt.



LP: Welche Politikerin/ welcher Politiker hat Sie im Zusammenhang mit Moral und Werten besonders geprägt, wen bewundern Sie?

(CL): Es gibt immer Personen, an denen man sich orientiert und die man in bestimmten Dingen zum Maßstab nimmt - das gilt natürlich auch für meine persönlichen Moralvorstellungen. Eine einzelne Person, bei der ich sagen würde: "So wie die möchte ich sein", gibt es allerdings nicht. Der Liberalismus hat viele große Persönlichkeiten in Deutschland hervorgebracht. Mit Blick auf die deutsche Geschichte sollten uns aber vor allem diejenigen in Erinnerung rufen, die ihre Freiheit und ihr Leben im Widerstand gegen den Terror des NS-Regimes und gegen das Unrecht der DDR aufs Spiel gesetzt oder gar verloren haben. Ihre moralische Standhaftigkeit ist für die Politiker-Generationen des modernen Deutschlands auch ein moralisches Vermächtnis.


 


Simon Schütz war bis 2020 als Politik-Journalist bei BILD und bei dem amerikanischen Sender National Public Radio (NPR) tätig. Durch Journalistenstipendiate (Arthur Burns Programm, RIAS Programm) war er außerdem als Journalist in New York City und Tulsa tätig. Für BILD war er 2016 als US-Korrespondent in Washington D.C. und berichtete über den Wahlkampf sowie die Wahl Trumps. Außerdem leitete er im Sommer 2019 als Chef vom Dienst die Nachtredaktion von BILD in Los Angeles. Aktuell arbeitet Herr Schütz als Leiter der Pressestelle des Verband der Automobilindustrie (VDA) e.V. 

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