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Wirtschaftsethik und das moralische Handeln

von Axel Dockhorn




In der heutigen schnelllebigen Welt, in der Wirtschaft und Ethik oft in einem ständigen Balanceakt stehen, werden liberale Grundsätze mehr denn je auf die Probe gestellt. Marktdynamiken sind nicht mehr nur das Ergebnis einfacher Kauf- und Verkaufstransaktionen; sie sind zu einem Spiegelbild globaler Strömungen und ideologischer Spannungen geworden. Die Position, die liberale Denker und Akteure in diesem sich ständig verändernden Umfeld einnehmen, ist entscheidend. Nicht nur, um das Fortbestehen der liberalen Ideale zu sichern, sondern auch, um zu gewährleisten, dass der Markt sein volles Potenzial ausschöpft. Während einige die Rolle des Zuschauers einnehmen und sich damit zufriedengeben, auf den Wellen des Marktes zu reiten, argumentieren andere für eine tiefere, aktivere Beteiligung. Doch was genau bedeutet es, in einer modernen Gesellschaft, die von komplexen wirtschaftlichen Interaktionen durchzogen ist, ein liberaler Akteur zu sein? Welche Herausforderungen und welche Chancen erwarten diejenigen, die bereit sind, über den bloßen Besitz von Privateigentum hinauszugehen und sich aktiv am Marktgeschehen zu beteiligen?


Nichtrevolutionäre Denker sehen sich in der modernen Gesellschaft mit zwei grundlegenden Thematiken des Ökonomismus konfrontiert: Dem Sachzwang und dem Gemeinwohlzwang. Sachzwang in der Art, als dass ein freiheitlich und kapitalistischer Markt durch bestimmte Grundfreiheiten gewährleistet sein muss. Keine externe Revolution von Marktmechanismen, sondern eine inhärente Veränderung durch Partizipation in den Prozessen muss ein Kernbestandteil liberalen Agierens sein. Dies bringt uns zu dem Gemeinwohlzwang, dem die Theorie zugrunde liegt, dass der Markt bereits in seinem Äquilibrium den größtmöglichen Nutzen erzeugt. Doch sehen wir in der Einflussnahme aus nichtfreiheitlichen Ländern als auch von landeseigenen Stiftungen und Verbänden, die der freiheitlichen Grundordnung entgegenstehen, auf Unternehmen und Märkte, dass das Gleichgewicht bereits aus der Waagschale gedrängt wird. Liberale Akteure können es sich nicht leisten, in einer beobachtenden Position zu bleiben. Das passive bourgeoise Selbstverständnis „Ich besitze Privateigentum, also bin ich“ muss sich zu einem aktiven citoyenschen Selbstverständnis „Ich partizipiere im Markt, also bin ich“ wandeln.


Natürlich kann das monatliche investieren von 50 Euro in einen handelsüblichen ETF dem deutschen Kleinbürger das Gefühl vermitteln, Teil der größeren Marktmechanismen zu sein, doch benötigt eine tatsächliche Emanzipation des Einzelnen für das größere Ganzen des Marktes mehr Aufklärung über die Partizipationsmöglichkeiten, welche öffentlich gehandelte Unternehmen ihren Aktionären tatsächlich bieten. Die Macht, welche liberale Ideen und Akteure besitzen, kann man an dem Beispiel von Engine No. 1 sehen, die ein Jahr nach ihrem Bestehen durch eine gezielte Kampagne vier Vorstandsmitglieder des amerikanischen Riesens ExxonMobil ersetzte – obwohl sie nur 0.02% der Aktien des Unternehmens besaß – und somit eine Trendwende des Energiekonzerns zu fortschrittlicheren und nachhaltigeren Technologien einleitete.


In unserer global vernetzten Welt, in der Meinungen und Ansichten sich täglich wandeln – beeinflusst durch eine Flut unterschiedlichster Informationen –, stellt sich die Frage nach einem festen Orientierungspunkt. Die Antwort findet sich in den zeitlosen Werten des Humanismus und des Liberalismus. Diese grundlegenden Prinzipien leiten uns zu Ansätzen der Wirtschaftsethik, wie sie beispielsweise in der Schweiz schon lange diskutiert werden und nun auch zunehmend in Deutschland Aufmerksamkeit erlangen. Es kristallisiert sich die Vision einer lebensdienlichen Ökonomie heraus, einer Wirtschaftsform, die im Einklang mit den Überzeugungen und grundlegenden Gedanken zentraler ökonomischer Theoretiker steht und sich an den Bedürfnissen des Lebens orientiert.


In einer lebensdienlichen Ökonomie wird die Partizipation des Einzelnen nicht nur durch das einfache Investieren in Finanzinstrumente realisiert. Es geht um weit mehr: um Bildung, Bewusstsein und aktives Engagement in den wirtschaftlichen Strukturen. Während das Beispiel von Engine No. 1 die transformative Macht kleiner, aber zielgerichteter Investorengruppen aufzeigt, unterstreicht es auch die Wichtigkeit von gut informierten und aktiven Aktionären. Das bloße Besitzen von Aktien ist nur ein erster Schritt. Die wahre Kraft liegt in der aktiven Beteiligung, im Stellen von Fragen und im Eintreten für wirtschaftliche und ethische Werte.


An dieser Stelle muss ein Umdenken im Bewusstsein der Menschen stattfinden. Die Ökonomie kann nicht länger als ein isolierter Bereich betrachtet werden, der nur von Spezialisten und großen Investoren beeinflusst wird. Jeder Bürger, unabhängig von seinem sozioökonomischen Status, hat die Möglichkeit und auch die Pflicht, sich aktiv in die wirtschaftlichen Prozesse einzubringen. Dies erfordert allerdings mehr als nur ein rudimentäres Wissen über Aktien und Märkte. Es verlangt eine tiefere Auseinandersetzung mit den Mechanismen, die unsere globalisierte Welt antreiben, und die Fähigkeit, kritisch und reflektiert zu agieren. Hier liegt die Bedeutung der Bildung: Eine informierte Gesellschaft ist eine, die in der Lage ist, den Wandel in Richtung einer nachhaltigeren und ethisch verantwortungsvolleren Wirtschaft anzuführen. Wenn der Einzelne seine Rolle im großen Ganzen versteht und die Werkzeuge und Kenntnisse besitzt, um effektiv teilzunehmen, dann können wir uns einem Markt nähern, der sowohl wirtschaftlich florierend als auch ethisch gefestigt ist. Es ist der Weg von der passiven Marktbeobachtung hin zur aktiven Marktgestaltung, der das liberale Ideal des 21. Jahrhunderts definiert.


Für Einzelpersonen bedeutet dies, dass die traditionelle Art der Informationssuche über den bloßen finanziellen Wert hinaus erweitert werden muss. Der Markt hat auf diese veränderten Prioritäten reagiert und innovative Kriterien entwickelt, um den Bedürfnissen von verantwortungsbewussten Investoren gerecht zu werden. An vorderster Front dieser Bewegung stehen die ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance). Diese haben ihren Ursprung und ihre Weiterentwicklung in enger Verbindung mit den Studien der UNPRI (United Nations Principles for Responsible Investment) gefunden.


Diese Neuausrichtung konfrontiert uns mit tiefgreifenden Fragestellungen: Bedeutet die Etablierung solcher Kriterien nicht womöglich einen gravierenden Eingriff in das natürliche Marktgeschehen? Bis zu welchem Grad ist solch ein Eingriff gerechtfertigt? Der fortwährende Diskurs darüber lebt, und Wissenschaftler sehen sich stetig wachsenden Herausforderungen in dessen Analyse gegenüber. Aus meiner Sicht ist die grundlegende Frage, ob wir bei diesen anscheinend moralisch und ethisch legitimierten Marktentscheidungen an einer Moral der Taten oder einer Moral der Folgen orientieren.


Wie einfach schien moralisches Handeln in den letzten Jahren am Markt, insbesondere am Energiemarkt, gewesen zu sein. Im Zuge von globalen Umweltbewegungen und einer Renaissance eines gesellschaftsübergreifenden Umweltbewusstseins schien das nötige Handeln gegenüber CO2 intensiven Industrien klar zu sein. Diejenigen, welche die aktuelle Situation der Umwelt am stärksten beeinflusst haben, wollte man bestrafen.

Es wurde übersehen, dass es in der Wirtschaftswissenschaft seit Langem als gegeben gilt: Unternehmen, deren verfügbares Kapital schwindet, tendieren stark dazu, sich auf unmittelbare Ergebnisse zu konzentrieren, wodurch nachhaltige, umweltschonende Innovationen oft in den Hintergrund treten. Analog zu den 80er Jahren, in denen die Atombranche ins Ausland verlagert wurde und große Tech-Giganten ihre Fertigungsstätten nach China verlegten, siedeln heutige Chemieunternehmen ihre Produktionsanlagen in Länder des globalen Südens um. Dort ermöglichen laxere Umweltbestimmungen in denselben Herstellungsverfahren oft höhere CO2-Emissionen. Wieder einmal können wir uns im Westen selbst auf die Schulter klopfen, da durch solche Verlagerungen unsere eigenen Umweltbilanzen scheinbar verbessert werden.


Dies stellt das Wesen einer Moral der Handlungen dar. Aber wie können wir eine Ethik, die sich auf die Folgen konzentriert, legitimieren? Es gleicht einem schmalen Grat, den jeder verantwortungsbewusste Bürger beschreiten muss, eingeklemmt zwischen den Polen des moralischen Absolutismus und des moralischen Subjektivismus. Auf der einen Seite gibt es tief verwurzelte und dogmatische Prinzipien, die keinerlei Raum für Diskussion oder Flexibilität bieten. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine Haltung, die sich von traditionellen moralischen Überzeugungen löst und mit der Annahme, dass jedes Land seine eigene Moral autonom bestimmen sollte, sogar extreme Praktiken wie Kinderarbeit oder Sklaverei in einigen Kontexten entschuldigt.


Ein reflektierter und langfristiger Ansatz in der Unternehmensführung lässt uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Aktuelle Forschungsergebnisse untermauern die These, dass durch bewusste Beteiligung und verantwortungsvolle Strategien in Unternehmen nachhaltige Veränderungen nicht nur möglich, sondern bereits im Gange sind. Es wird sichtbar, dass Unternehmen, die sich auf zukunftsorientierte Produktionsprozesse und innovative Technologien konzentrieren, das Potenzial besitzen, einen tiefgreifenden Wandel in der Industrielandschaft anzustoßen. Noch bedeutender ist jedoch die Erkenntnis, dass jene Unternehmen, die ein echtes Bewusstsein für ihre soziale Rolle und Verantwortung entwickeln, nicht bei oberflächlichen Maßnahmen verweilen. Sie gehen über das bloße Aufstellen eines Obstkorbs in der Kantine hinaus und übernehmen eine authentische Verantwortung für ihre Mitarbeiter, die Gemeinschaften, in denen sie arbeiten, und letztlich für die größere globale Gemeinschaft, der wir alle angehören.


Zusammenfassen lässt sich sagen, dass wir vor der Aufgabe stehen, unseren moralischen Kompass neu zu kalibrieren. Anstatt uns auf starre, unveränderliche Grundsätze zu verlassen, sind wir aufgerufen, eine dynamische, reflektierte Ethik zu entwickeln, die die Realitäten unserer Zeit berücksichtigt. Dies bedeutet nicht, Kompromisse bei unseren Grundwerten zu machen, sondern vielmehr, sie in einem sich ständig verändernden Kontext anzuwenden. Es ist an der Zeit, dass wir erkennen: Die wahre Stärke des Liberalismus liegt nicht in der reinen Marktfreiheit, sondern in der Fähigkeit, wirtschaftlichen Fortschritt und ethische Integrität miteinander zu vereinen. Dieser Weg mag herausfordernd sein, aber er ist es wert, beschritten zu werden.



 



Axel Dockhorn, ist Ökonom und Dekanatsleiter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein (UFL) in Triesen. In seiner Forschung arbeitet er interdisziplinär mit den Rechtswissenschaften zu den Themenbereichen der Treuhandverpflichtung und der Effektivität von nachhaltigen Investitionen.

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