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Merian Centres: frischer Wind für die Geistes- und Sozialwissenschaften

von Sérgio Costa und Susanne Klengel



Mit den “Maria Sibylla Merian International Centres for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences” unterhält das Bundesministerium für Bildung und Forschung eine Förderlinie, die in ihrem Innovationscharakter und ihrer Ausstrahlungskraft weltweit einzigartig ist. Nacheinander wurden insgesamt fünf Merian Centres gegründet, die im Folgenden mit ihrem Kürzel, ihrem Themengebiet und ihrem Gründungsjahr aufgeführt werden: ICAS:MP Metamorphoses of the Political, Delhi, Indien, 2015; CALAS Coping with Crises, Guadalajara, Mexiko, 2017; Mecila Conviviality-Inequality, São Paulo, Brasilien, 2017; MIASA Sustainable Governance, Accra, Ghana, 2018; MECAM Imaging Futures – Dealing with Disparities, Tunis, Tunesien, 2020. 


Benannt nach der Frankfurter Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647-1717) werden die Merian Centres durch Konsortien zwischen Universitäten und Forschungseinrichtungen aus Deutschland und der jeweiligen Region geführt. Die zentrale Aktivität der Merian Centres besteht in ihrem Fellow-Programm, das es exzellenten Wissenschaftler*innen aus Deutschland sowie aus der jeweiligen Partnerregion und aus anderen Weltregionen ermöglicht, vor Ort für mehrere Monate an ihren Forschungsvorhaben zusammenarbeiten. Hinzu kommen Veranstaltungen sowohl für die Fachöffentlichkeit als auch für ein breites Publikum und Publikationen wie andere Verbreitungsformen der gemeinsamen Forschungsergebnisse (Videos, Podcasts, Blogs). 


Die Einrichtung der Merian Centres wurde in ihrem Ursprung damit begründet, dass bestimmte Fragestellungen sich besser vor Ort und in Kooperation mit Wissenschaftler*innen aus den jeweiligen Regionen als aus der Ferne in Deutschland erforschen lassen. Dieser Gedanke war und ist sinnvoll und als Grundidee sicher gut nachvollziehbar. Doch im Zuge ihrer Entwicklung zeigte sich, dass die Merian Centres noch zahlreiche weitere wichtige Funktionen erfüllen. 


Insbesondere fungieren sie auch als wichtige Instrumente der Wissenschaftsdiplomatie, d.h. als zusätzliche Wege der Verständigung zwischen Nationen und Gesellschaften, die selbst in politisch turbulenten Zeiten bestehen bleiben. 


Des Weiteren kommt den Merian Centres eine zentrale Rolle für ein Aggiornamento der Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland zu. Aggiornamento ist hier im übertragenen Sinne als Neugestaltung herkömmlicher Arbeitsweisen und als Öffnung für neue Internationalisierungsstrategien zu verstehen. In den letzten Jahrzehnten haben die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften an internationaler Relevanz eingebüßt. Der einzige lebende deutsche Geistes- und Sozialwissenschaftler, der noch zur Gruppe der 100 weltweit meistzitierten Autor*innen gehört, ist der seit mehreren Jahrzehnten emeritierte Sozialphilosoph Jürgen Habermas. Die Weise der Wissensproduktion, welche die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften in der Vergangenheit weltberühmt gemacht hatte, scheint erschöpft. Es war, etwas pauschal gesprochen, ein Modell, nach dem ein meist männlicher Kopf in Frankfurt, Bielefeld oder München global gültige Theoriesysteme entwickeln konnte. 


Die Gründe dafür, dass diesem Modell die Überzeugungskraft abhandengekommen ist, sind verschiedene: Nicht nur übersteigt das Angebot an forschungsrelevanten Daten und Informationen in unserer verwobenen Welt die individuellen Kapazitäten für ihre Auswertung. Gefragt sind daher inter- und transdisziplinäre Netzwerke, die es ermöglichen, Informationen entsprechend ihrer Relevanz und Qualität zu verstehen, einzuordnen und systematisch aufzuarbeiten. Auch hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Dezentrierung der wissenschaftlichen Wissensproduktion stattgefunden: Relevante theoretische Beiträge, die zu Paradigmenwechseln in verschiedenen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften führen, kommen zunehmend aus Ländern wie Indien, Brasilien oder Südafrika. 


Die Maria Sibylla Merian Centres sind im besten Sinne des Wortes ein Experimentierfeld, in dem innovative Kooperationsformate und neue wissenschaftliche Netzwerke entstehen, die die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihren herkömmlichen Arbeitsweisen wachrütteln. Umgekehrt eröffnen die Merian Centres Internationalisierungsperspektiven für hervorragende Institutionen und Wissenschaftler*innen aus der jeweiligen Partnerregion. Durch die Zusammenarbeit mit den deutschen Kooperationspartnern erschließen sich für die Kolleg*innen aus dem Globalen Süden neue wissenschaftliche Netzwerke und Plattformen, welche die Sichtbarkeit ihrer Forschung deutlich erhöhen.


Das große Potenzial der Merian Centres lässt sich anhand der Arbeit von Mecila, dem Merian Centre in São Paulo, veranschaulichen. Das Forschungskolleg wird von drei Institutionen in Deutschland und vier Institutionen in Lateinamerika geführt: der Freien Universität Berlin (koordinierende Institution), der Universität zu Köln und dem Ibero-Amerikanischen Institut SPK sowie der Universität São Paulo und dem Zentrum für Analyse und Planung CEBRAP in Brasilien, dem Colegio de México in Mexiko und der Universität La Plata in Argentinien. Die Leitung obliegt einem Vorstand, der sich aus Vertreter*innen der sieben Partnerorganisationen sowie einem bzw. einer Nachwuchswissenschaftler*in zusammensetzt. Vor Ort in São Paulo führen jeweils eine Direktorin bzw. ein Direktor aus Deutschland und aus Lateinamerika die Geschäfte. 

Das Forschungsprogramm fokussiert die Wechselbeziehung zwischen

Zusammenleben/Miteinander (conviviality) und Ungleichheit (inequality). Dies meint zweierlei: Erstens die Einsicht, dass das Zusammenleben in Gesellschaften nicht nur durch Differenzen, sondern auch durch Ungleichheiten geprägt ist. Zweitens, dass Ungleichheiten erst im Zusammenleben (zwischen Individuen, Gruppen oder auch Nationen) Gestalt und Bedeutung annehmen. Diese offene, doch richtungsweisende Fragestellung hat es uns bislang ermöglicht, Wissenschaftler*innen aus 15 verschiedenen Disziplinen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Sie erforschen regional und historisch verschiedene Konfigurationen – von den Kolonialgesellschaften in Peru oder Mexiko bis hin zu Beziehungen zwischen Mensch und Tier in São Paulo oder zu gegenwärtigen Konflikten um Stadträume in Europa. Die unterschiedlichen Befunde führen, wenn man sie zusammen betrachtet, zu einem neuen Verständnis der Formen, wie soziale Ungleichheiten in Institutionen aber auch im Alltag ausgehandelt werden. 


Unsere laufenden Forschungsarbeiten werfen auch ein neues Licht auf die beeindruckende Breite von Handlungsmöglichkeiten, die unterschiedliche Gesellschaften zu verschiedenen Momenten ihrer Geschichte (er)finden, um das Zusammenleben in ungleichen und pluralen Kontexten zu ermöglichen – oder auch zu erschweren. Dabei erkennt man etwa, inwiefern das heutige Europa mit Herausforderungen des Zusammenlebens konfrontiert ist, die die Länder Lateinamerikas schon vor Jahrhunderten bewältigen mussten. Gleichzeitig ist Lateinamerika mit anhaltenden, eklatanten Ungleichheiten konfrontiert, welche man einst in Europa, vor dem Aufbau der Wohlfahrtsstaaten, in einer ähnlichen Ausprägung kannte. 


Obgleich unsere bisherigen Befunde verdeutlichen, dass Antworten auf diese Fragen und Herausforderungen nicht über Regionen und Epochen hinweg übertragen werden können, so fördert eine solche Erweiterung des Blicks wissenschaftliche Innovation und kreative Lösungen. 


Ein weiterer, wissenschaftspolitischer Beitrag des Forschungskollegs Mecila betrifft die Verknüpfung verschiedener Wissenskreisläufe („knowledge circuits“). In Einklang mit Forschungsbefunden zu anderen Weltregionen belegen die Recherchen unseres Centre die Relevanz „alternativer Wissenskreisläufe“ für die Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse – gerade auch in Lateinamerika. Es handelt sich dabei um hochkarätige wissenschaftliche Fachbücher und -zeitschriften, die meist über öffentliche Universitätsverlage und in portugiesischer oder spanischer Sprache publiziert werden. Aus diesem Grund werden sie kaum im englischsprachigen kommerziellen Wissenskreislauf, der von einigen wenigen Großverlagen beherrscht wird, wahrgenommen. Dies bedeutet, dass diese Publikationen kaum für konventionelle internationale Indikatoren zählen, mit welchen die „wissenschaftliche Exzellenz“ international gemessen wird. Ungeachtet dessen erreichen diese Publikationen ebenfalls ein breites Fachpublikum, welches nicht über den Zugang zum kostspieligen kommerziellen Wissenskreislauf verfügt. Durch die Vernetzung und Zusammenarbeit von Institutionen und Wissenschaftler*innen aus Deutschland und Lateinamerika macht es das Forschungskolleg Mecila möglich, dass gemeinsame und individuelle Publikationen seiner Forscher*innen sowohl im kommerziellen „globalen“ Wissenskreislauf als auch in den lateinamerikanischen „alternativen“ Wissenskreisläufen zirkulieren - mit klaren Vorteilen für beide Seiten.


Abschließend müssen wir angesichts dieser optimistisch dargestellten Perspektive zur weiteren Entwicklung der Merian Centres aber doch einen Wermutstropfen nennen. Die Centres werden nach sukzessiven Evaluierungen für insgesamt bis zu 12 Jahren finanziert. Anschließend sollen sie sich selbst finanzieren bzw. um eine Finanzierung aus der Partnerregion kümmern. Auch wenn die Aussichten hierzu für jedes Merian Centre unterschiedlich sind, lässt sich generell sagen, dass die Finanzierung von geistes- und sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung aus Ressourcen der Partnerregion für die Centres eine große Herausforderung darstellt. Eine Ko-Finanzierung aus der Region in Verbindung mit einer weitergeführten Förderung aus Deutschland würde die Fortdauer und wissenschaftliche Kontinuität der Merian Centres sicherlich erleichtern. 


Eine weitere große Herausforderung ist auch die überaus bürokratische Administration der Förderlinie durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Aufgrund des innovativen Charakters des Förderformats lässt sich nämlich das herkömmliche Regelwerk in der Zusammenarbeit mit den internationalen Partnern und Institutionen oft nur schwer anwenden. Durch das Beharren darauf entsteht oft der Eindruck, dass der Projektträger vor allem seiner eigenen Absicherung dient, während er die Förderziele aus dem Blick verliert. In der Folge entstehen große Risiken für die Zuwendungsempfänger und gleichzeitig verengt sich der Raum für die Kooperation auf Augenhöhe mit den Partnern aus dem Globalen Süden. Und dennoch: Die Förderlinie ist so bahnbrechend, dass es den Merian Centres trotz dieses steinigen Wegs gelungen ist, einigen frischen Wind in die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften zu bringen.



 

Sérgio Costa studierte Ökonomie und Soziologie in Brasilien und Deutschland und ist seit 2008 Professor für Soziologie Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie und Differenzen, soziale Ungleichheiten, Rassismus und Antirassismus sowie globale soziale Theorie. Er ist Principal Investigator, Vorstandsmitglied und Sprecher des Zentrums Mecila sowie Pincipal Investigator der Graduiertenkollege „Minor Cosmpolitanisms“ und „Temporalities of Future“. 



Susanne Klengel ist Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. die iberoromanischen Avantgardebewegungen, Literatur und Memoria sowie die literarischen und kulturellen Süd-Süd-Beziehungen, insbesondere zwischen Lateinamerika und Indien. Sie ist Principal Investigator und Vorstandsmitglied des Zentrums Mecila sowie am Exzellenzcluster "Temporal Communities. Doing Literature in a Global Perspective".

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