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Moralische Dilemmata der Wirtschaftssanktionen

Eine moralphilosophische Reflektion


von David Grasveld 




Wann immer ein bewaffneter Konflikt ausbricht oder ein Regime tiefgreifende Menschenrechtsverletzungen begeht, werden in der internationalen Gemeinschaft schnell Forderungen nach Gegenmaßnahmen laut. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich dabei insbesondere eine Variante als erfolgversprechend durchgesetzt: Die Wirtschaftssanktionen. Ursprünglich als gewaltlose Alternative zu militärischen Interventionen konzipiert, sind sie jedoch zunehmend in Verruf geraten, und auch ihre tatsächliche Wirksamkeit wird immer häufiger angezweifelt. Zudem sind sie moralisch umstritten, da sie in ihrer Wirkung oftmals nicht ausreichend zwischen den eigentlichen Aggressoren und unbeteiligten Zivilisten unterscheiden können, sondern beide gleichermaßen treffen. Unter welchen Umständen können Wirtschaftssanktionen also vertretbar, ja vielleicht sogar gerechtfertigt und notwendig sein? Eine moralphilosophische Reflektion kann helfen, darauf Antworten zu finden. 


Um den moralischen Wert von Wirtschaftssanktionen beurteilen zu können, sollte man sich zunächst deren zugrundeliegenden Gedanken vor Augen führen. In der Theorie sollen Wirtschaftssanktionen dazu dienen, bestimmte Akteure auf nicht-militärische Weise dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern, indem ihre wirtschaftlichen Interessen gezielt behindert und erst nach einem Einlenken wieder freigegeben werden. Auf diese Weise hofft man politische Veränderungen, ohne die Notwendigkeit einer gewaltsamen Militärintervention herbeizuführen. 


Es ist dabei wichtig, zwischen verschiedenen Arten von Wirtschaftssanktionen zu unterscheiden: Manche Sanktionen in Form von Embargos unterbinden den In- und Export bestimmter Güter, um damit etwa einen Wirtschaftszweig zu schwächen oder beispielsweise die Produktion von Waffen zu unterbinden. Andere sogenannte Verkehrssanktionen zielen wiederum darauf ab, eine bestimmte Region von der Außenwelt zu isolieren, indem jegliche Schiffs- und Flugverbindungen gekappt werden und der Transport von Personen und Gütern somit erschwert wird. Finanzsanktionen wiederum sollen den Finanzsektor schwächen, indem der internationale Kapitaltransfer verboten wird, Investitionen erschwert, oder Auslandskonten eingefroren werden. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, freiwillige Zahlungen wie beispielweise Entwicklungshilfe auszusetzen, wie es jüngst im Nahost-Konflikt als Reaktion auf den Überfall der Hamas auf Israel geschah. 


Je nach gewählter Form der Sanktionen wird dabei jedoch in Kauf genommen, auch die unbeteiligte Zivilbevölkerung zu treffen und auf diese Weise Druck auf die eigentlichen Aggressoren aufzubauen, was zu einem moralischen Dilemma führen kann. Um die Gerechtigkeit von Wirtschaftssanktionen in Einzelfällen zu beurteilen, können verschiedene Perspektiven der Moralphilosophie zu Rate gezogen wegen.


Aus Sicht des Utilitarismus, der auf Jeremy Bentham und John Stuart Mill zurückgeht, ist der moralische Wert einer Handlung primär nach ihren Konsequenzen zu beurteilen. Das Ziel ist dabei, das allgemeine Wohlergehen zu maximieren, indem der gesamte positive Nutzen einer Handlung für die Menschheit die eventuellen negativen Folgen überwiegt. Ist die Gesamtsumme des Nutzens abzüglich aller nachteiligen Folgen positiv, so ist eine Tat als moralisch richtig zu beurteilen, ist die Gesamtsumme hingegen negativ, so ist die Tat moralisch falsch.


Im konkreten Fall von Wirtschaftssanktionen müsste man also abwägen, ob der erhoffte positive Effekt der Sanktionen, wie etwa eine möglichst schnelle Beendigung der Menschenrechtsverletzungen, die negativen Folgen überwiegt, wie beispielsweise ein temporäres Leiden der Zivilbevölkerung unter den Folgen von Embargos und Verkehrssanktionen. Auf den ersten Blick mag eine solche Abwägung vernünftig und zielführend erscheinen, in der Praxis stellt sie sich jedoch als äußerst komplex dar: Wie soll der Nutzen und Schaden der Sanktionen überhaupt quantifiziert werden? Soll das Leiden der Zivilbevölkerung gleich gewichtet werden wie das der Aggressoren, oder ist eine gewisse Asymmetrie zulässig? Kann ein positiver Nutzen überhaupt gegen das verursachte Leid aufwiegen?


Hier hilft es nun, zwischen den verschiedenen Arten der Sanktionen zu unterscheiden: Während Handelsembargos und Verkehrssanktionen meist die gesamte Bevölkerung treffen, lässt sich bei Finanzsanktionen wie etwa dem Einfrieren von Auslandskonten wesentlich gezielter gegen Aggressoren vorgehen. Daraus ergibt sich, dass die potenziellen negativen Folgen bei solchen Sanktionen begrenzt sind, während der positive Nutzen hoch ist. Die Gesamtsumme des Nutzens würde also voraussichtlich dem verursachten Leid überwiegen, und solche Sanktionen aus utilitaristischer Perspektive als gerechtfertigt beurteilen. Anders sieht es jedoch bei Sanktionen aus, die indifferent sind und die gesamte Bevölkerung gleichermaßen treffen. Hier könnte das Leid der vielen Zivilisten durchaus schwerer wiegen als der zu erwartende positive Nutzen durch die Bestrafung von wenigen Aggressoren, und die Sanktionen aus utilitaristischer Sicht also als unmoralisch gelten. 


Eine andere Perspektive bietet die deontologische Ethik, die maßgeblich von Immanuel Kant beeinflusst wurde. Sie beurteilt den moralischen Wert von Handlungen im Gegensatz zum Utilitarismus nicht anhand der Konsequenzen, die sie herbeiführen, sondern anhand ihres intrinsischen Wertes und der Prinzipien, von denen sie geleitet werden. Er formuliert dazu den sogenannten kategorischen Imperativ, der als eine Art universelle Orientierungsregel zur Überprüfung des moralischen Werts bestimmter Handlungen dienen soll. Ein zentrales Konzept spielt dabei die Universalisierbarkeit von Handlungen. Handlungen können nur dann moralisch gerecht sein, wenn sie auf Maximen beruhen, die universalisierbar sind; das heißt, dass sie als allgemeingültiges Gesetz gedacht und gewollt werden können. Auf Wirtschaftssanktionen übertragen bedeutet dies, dass sie nur dann gerecht sein können, wenn sie bedingungslos und ohne Widerspruch in jedem anderen vergleichbaren Fall angewendet werden könnten, der die gleichen Voraussetzungen erfüllt. Ist es hingegen so, dass sich die angedachten Sanktionen nicht zu einer allgemeinen Regel universalisieren lassen – etwa, weil es zu weitreichend wäre, in Zukunft in jedem vergleichbaren Fall die exakt gleichen Sanktionen zu verhängen - sind die Sanktionen im vorliegenden Einzelfall vermutlich auch nicht angebracht. 


Ein weiterer Bestandteil des kategorischen Imperativs bildet die ‚Selbstzweckformel‘: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel betrachtest“. Damit eine Handlung also moralisch gerechtfertigt ist, muss sie die Menschheit immer als Zweck und nicht als reines Mittel betrachten. Angewandt auf das moralische Dilemma der Wirtschaftssanktionen bedeutet dies, dass solche Sanktionen unmoralisch sind, welche die Menschheit nicht als Zweck an sich selbst, sondern bloß als reines Mittel zum Erreichen eines anderen Zweckes betrachten. Es wird sofort deutlich, dass indifferente Wirtschaftssanktionen, welche das Leiden der Zivilbevölkerung als Druckmittel auf die Aggressoren einsetzen, aus deontologischer Sicht also klar unmoralisch sind, da die Menschheit in ihrer Würde verletzt wird, wenn sie ausschließlich zum Erreichen eines anderen Zweckes eingesetzt wird. Bei gezielten Sanktionen hingegen wird die Selbstzweckformel nicht verletzt, da die Menschheit in diesem Fall nicht als Mittel verwendet wird, sondern als reinen Zweck und in Würde anerkannt wird. 


Man kann darauf also schließen, dass sowohl der Utilitarismus als auch die deontologische Ethik wertvolle Perspektiven für die moralische Bewertung von Sanktionen bieten. Einerseits unterscheiden sich die beiden Theorien teilweise in den berücksichtigten Kriterien und den erreichten Schlussfolgerungen, andererseits deuten sie beide jedoch darauf hin, dass gezielte Sanktionen, die zwischen Aggressoren und unschuldiger Zivilbevölkerung unterscheiden differenzieren, generell vorzuziehen sind. Somit ist beispielsweise das Einfrieren von Auslandskonten von Individuen in moralischer Hinsicht einfacher zu rechtfertigen als das Verhängen von Embargos oder das Kappen wichtiger Verkehrsverbindungen, die oftmals auch unbeteiligte Zivilisten treffen. Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass die moralische Bewertung von Sanktionen auf Einzelfallbasis erfolgen sollte, wobei sowohl ethische Grundsätze als auch praktische Erwägungen berücksichtigt werden müssen. Das richtige Gleichgewicht zu finden, um Sanktionen zu verhängen, die sowohl wirksam als auch moralisch gerecht sind, bleibt eine komplexe Herausforderung im Bereich der internationalen Beziehungen.



 


David Grasveld ist International Officer im Bundesvorstand der Liberalen Hochschulgruppen und war zuvor langjährig im internationalen Komitee der Jungen Liberalen aktiv. Er hat einen Bachelor in internationalen Beziehungen und studiert momentan politische Philosophie an der Universität Groningen in den Niederlanden.

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