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Religion und Politik – Perspektiven auf ein vielschichtiges Verhältnis

von Catharina Jabss



Forderungen nach einer stärkeren Trennung von Staat und Kirche sind auch aus liberalen Kreisen in Deutschland immer wieder zu hören. Diese Forderungen und daran anschließende Diskussionen verkürzen jedoch die eigentliche Fragestellung, geht es doch um ein komplexes und vielschichtiges Verhältnis von Religion und Politik in einer offenen und darum immer pluralistischen Gesellschaft. Darüber in einer liberalen Perspektive zu schreiben, bedeutet – wie es viele andere Beiträge in vergangenen Ausgaben tun –, vom Begriff und Verständnis der Freiheit auszugehen. Hier sollen allerdings nicht unterschiedliche Freiheitsverständnisse theologischer und politischer Natur gegeneinander abgewogen werden, sondern gemeinsam nach der bestmöglichen Umsetzung der in Artikel 4 des Grundgesetzes festgeschriebenen Religionsfreiheit gefragt werden.


Die Unverletzlichkeit der Freiheit des religiösen Bekenntnisses umfasst sowohl einerseits die negative und positive Religionsfreiheit als auch andererseits jeweils die individuelle und korporative Religionsfreiheit. Während aus der negativen Religionsfreiheit folgt, dass niemand zu einem Glauben gezwungen werden kann und frei ist, eben auch nicht zu glauben, ist in der Perspektive der positiven Religionsfreiheit, die in ihrer korporativen Dimension eben nicht nur das individuelle Leben des Glaubens, sondern auch gemeinschaftliche Äußerungsformen und deren Rahmenbedingungen umfasst, auf die vielfältige Präsenz religiöser Aspekte im Leben religiöser Menschen zu verweisen.


Unabhängig von juristischen Grenzfällen, in denen über die Definition von Religion auf unterschiedlichen Ebenen zu entscheiden ist, ist hervorzuheben, dass der Artikel des Grundgesetzes alle Religionen und auch die immanent begründeten Weltanschauungen und damit nicht nur das Christentum in allen Dimensionen betrifft. Religions- und Weltanschauungsfreiheit konvergiert nicht nur mit Aspekten des Minderheitenschutzes, sondern gilt eben als Grundrecht in all seinen Dimensionen für alle.


Auf der Ebene des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften sichert der Staat diese Dimensionen der Religionsfreiheit durch einen rechtlichen Rahmen und unterschiedliche Einzelregelungen. Dabei bedeutet staatliche Neutralität nicht die Verbannung jeglicher Form von Religion aus dem öffentlichen Raum, denn dies würde eine einseitige Neigung zur negativen Religionsfreiheit bedeuten. Stattdessen geht es bei staatlicher Neutralität in religiösen Dingen um die religiöse Unvoreingenommenheit des Staates und die Gleichbehandlung aller Religionen (in Anerkennung der positiven Religionsfreiheit). In der Konsequenz dessen regelt der Staat auch das Umfeld religiöser Äußerungsformen, insbesondere dort, wo das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sich mit staatlichen Regelungsbereichen überschneidet – dem Bereich der sogenannten res mixtae (z.B. Religionsunterricht, Gefängnisseelsorge, Militärseelsorge). Diese Zusammenarbeit von Staat und Religionen entsprechend der positiven Religionsfreiheit entspricht dem Selbstverständnis vieler Religionen, insbesondere des Christentums, im Leben der Menschen wirken und zu dessen Verbesserung beitragen zu können. Denn Religion ist nicht allein eine innere und private Angelegenheit, sondern intrinsisch darauf angelegt, sich in unterschiedlichen Formen im religiösen und gesellschaftlichen Leben zu äußern.


Doch neben der religionsverfassungsrechtlichen Dimension, bei der weitere verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Regelungen im Grundgesetz und in Bundes- und Landesgesetzen Art. 4 GG ergänzen, ist das Verhältnis von Religion und Politik in weiteren Perspektiven zu betrachten, von denen drei hier zu nennen sind: Religion als politisches Thema, Religionsgemeinschaften als politische Akteure sowie die Religion der Politikerinnen und Politiker.


In der ersten Perspektive finden sich religionspolitische Fragestellungen von den erwähnten res mixtae, über Fragen nach der Form der Präsenz des Religiösen im öffentlichen Raum und dem politischen Umgang mit den Folgen einer religiös pluraler werdenden Gesellschaft. Klar ist: Je mehr unterschiedliche religiöse Akteure da sind, desto vielfältiger werden die Fragen, die politisch unter den Grundsätzen der Religionsfreiheit und von daher auch weitestgehend in Kongruenz mit dem Selbstverständnis der Religionen zu entscheiden sind.


Religionen sind auch im politischen Umfeld präsent, vertreten durch unterschiedliche Personen und Institutionen. Die beiden großen christlichen Kirchen sehen es – theologisch begründet – als einen Teil ihrer Aufgabe in der Welt, die Gesellschaft mitzugestalten, die politische Stimme der gesellschaftlich Benachteiligten zu sein und die Politik kritisch zu begleiten und auch auf Missstände aufmerksam zu machen. Das geschieht durch kirchliche Äußerungen und Stellungnahmen sowie insbesondere durch die Dienststelle der Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (sowie ihr katholisches Pendant, das Katholische Büro in Berlin). Sie verstehen ihre Aufgabe als eine dreifache: Es geht in ihrer Arbeit darum, Seelsorgerin für die Politikerinnen und Politiker zu sein, Stimme der Stimmlosen, die keine eigene Lobby haben, in der Politik zu sein und eigene kirchliche Interessen gegenüber der Politik zu vertreten.


Nicht nur spiegeln sich in diesen Aufgaben unterschiedliche in diesem Artikel benannte Aspekte, sondern vor allem wird auch in dem ersten Punkt deutlich, dass Politikerinnen und Politiker religiöse Individuen sind. Dabei können ihre Haltungen und ihr Handeln an unterschiedlichen Enden des Spektrums von Religionsfreiheit verortet werden. Dem einen ist es wichtig, öffentlich seine religionskritische Haltung zu äußern, während die andere ihr politisches Dasein aktiv als Christin gestaltet. Dabei geht es nicht um eine direkte Übersetzung von Glaubensinhalten und Bibelstellen in ein entsprechendes Abstimmungsverhalten im Parlament, sondern um die Umsetzung aus einer selbstverantworteten Glaubensreflexion individuell erkannter Grundüberzeugungen und Grenzlinien, innerhalb derer sich politisches Abwägen, Diskutieren und Abstimmen bewegen.


Die Präsenz dieser Grundhaltungen und Grenzlinien ist abhängig vom politischen Thema. Nicht nur, aber insbesondere bei ethisch-moralischen Fragen werden sie oft deutlich. Vertreterinnen und Vertreter der evangelischen Kirche geben dabei keine „moralisch richtige“ Entscheidung vor, sondern bieten mögliche Reflexionsimpulse und sind Gesprächspartnerinnen auf der Suche der Politikerinnen und Politiker nach ihrem jeweiligen ethischen Standpunkt.


Die unterschiedlichen Perspektiven auf Religion und Politik haben dabei gezeigt, dass eine Verkürzung des Verständnisses von Religion auf eine wie auch immer geartete moralische Funktion ihr nicht gerecht wird. Religion gibt sicherlich ethische und moralische Orientierungen. Dies erfolgt nach protestantischer Überzeugung aber nicht im Modus einer direkten Ableitung der einen richtigen Handlung und Entscheidung, sondern im Modus individuell verantworteter Glaubensreflexion. Eine gesellschaftliche Wahrnehmung von Kirchen und religiösen Akteuren als Moral- und Wertagenturen verkennt darüber hinaus die Vielfalt dessen, was Religionen spirituell, moralisch und intellektuell ausmacht.


Religion von der Politik und in der Politik in ihren vielschichtigen Facetten wahrzunehmen, sollte im Fragen nach einer modernen Religionspolitik in einer pluralistischen Gesellschaft und allen Diskussionen um Veränderungen im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften der gemeinsame Ausgangspunkt sein.



 


Catharina Jabss, Jahrgang 1996, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Münster und Beauftragte für den Dialog mit den politischen Jugendverbänden bei der Bevollmächtigten des Rates der EKD. Sie studierte Evangelische Theologie in Greifswald, Tübingen, Genf und Münster sowie Politik- und Rechtswissenschaften.

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