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Unsere Diskussionskultur: Wir haben den Mut zur Veränderung verloren

von Tim Gottsleben 




In der liberalen Familie diskutieren wir gerne, auch lebhaft. Besonders dann, wenn Überzeugungen nicht mit dem vermeintlichen liberalen Konsens vereinbar sind. Viele von uns sind schnell dabei, wenn es darum geht, andere Meinungen oder Beiträge in der liberalen Familie als „illiberal“ abzuwerten. Damit verengen wir unseren Blick auf das politisch Mögliche – und das kann abschrecken. 


In den letzten zwei Jahren konnte man diese Diskussionskultur anhand von zwei Beispielen beobachten: Der Frage nach einer Corona-Impfpflicht und unserem Weg beim Klimaschutz. Eines ist hierbei klar: Wer für die Impfpflicht war, ist kein Liberaler. Und Gesetze zum Klimaschutz sind pauschal abzulehnen. Wenn wir unseren Gestaltungswillen verlieren – oder einfach nicht erfolgreich vermitteln – werden wir auch bei den nächsten Wahlen abgestraft. 


Im März 2020 erreichte die Corona-Pandemie eine Dimension, die die Politik in Deutschland und weiten Teilen der Erde zu einschneidenden Maßnahmen zwang. Wie kaum zuvor spürten wir die Folgen der restriktiven Corona-Politik am eigenen Leibe. Hunderttausende Schüler litten unter den Schulschließungen, Studierende und Unternehmer gerieten in finanzielle Notlagen, die psychische Gesundheit von Millionen von Menschen erodierte und hinterlässt Spuren bis heute. Ganz zu schweigen von den vielen tausend Todesopfern des Virus. 


Nach anderthalb Jahren einer schier endlosen Aneinanderreihung von Berichten über Todeszahlen und angekündeten Lockdowns durch die legendär-dramatischen Ministerpräsidentenkonferenzen kam die Debatte um eine mögliche Impfpflicht gegen das Corona-Virus auf. Der Reflex der Liberalen war bis auf wenige Ausnahmen eindeutig: Eine Impfpflicht darf es nicht geben. 


Aus der Philosophie des Liberalismus gehe hervor, dass man einer solchen Maßnahme nicht zustimmen dürfe. Die Frage ist ein real-existierendes Problem und die Antwort darauf ist abstrakte Philosophie. Das funktioniert nicht. 


Die Pandemie könnte man in zwei Phasen der Illiberalität aufteilen: In Phase 1 siegten Egoismus, bequeme Ausreden und Faulheit über das Prinzip der Eigenverantwortung. Das Virus breitete sich ungebremst aus, allein in Deutschland starben über 171.000 Menschen. In Phase 2 wurden die Lockdowns verhängt – eine Erklärung, weshalb diese die Freiheit beschränkten, erübrigt sich. Der schnelle Ausweg aus beiden Phasen der Illiberalität hätte die Impfpflicht sein können. 


Stattdessen pochten wir auf Eigenverantwortung. Ein Prinzip, das während der Pandemie bereits gescheitert war. Anstelle tausender Todesopfer, dem Leistungsabsturz unserer Schüler, den vielen Depressionserkrankungen – diese Liste ließe sich beliebig erweitern – stünde ein Piecks und eine Nacht voll Kopf- und Gliederschmerzen. Doch für uns als Liberale stand das nicht zur Debatte. „Lieber Lockdowns als Impfpflicht“ war die Marschroute. Dass die Pandemie kurz danach abklingen würde, war nicht absehen. 


An der Debatte – oder der nicht geführten Debatte – um die Impfpflicht wird klar, dass wir in unserer Bubble, die – wo es nur geht – gegen Denkverbote ist, uns selbst einen Maulkorb verpasst haben. Natürlich kann man gegen die Impfpflicht argumentieren und auch dagegen stimmen. Es wird aber vermittelt, dass man keine Wahl hat. Wenn Du ein Liberaler sein willst, dann musst Du gegen die Impfpflicht sein. So hast Du zu denken. 

Auch bei der Klimakrise kann eine solche Haltung sehr frustrierend wirken. Der Klimawandel gefährdet die Überlebensfähigkeit unserer liberalen Gesellschaft, da sie jede für uns heilige Institution bedroht. Ohne Klimaschutz keine Marktwirtschaft, kein sauberes Wasser, kein Essen, kein Überleben. 


Und trotzdem kann ich förmlich hören, wie einige jetzt schon die Augen verdrehen. Das liegt vor allem daran, dass wir uns in unserer eigenen Bubble nur mit eFuels und Kernfusion gegenseitig beschwichtigen, uns aber nicht mit den Risiken des Klimawandels auseinandersetzen. Spricht man die möglichen Folgen der Klimakrise aus, wird man bei uns schnell als „Schwarzmaler“ bezeichnet. 


Aber wie hat die FDP plakatiert? „Nichtstun ist Machtmissbrauch.“ Und trotzdem fällt vielen zur Klimakrise nichts anderes ein, als – völlig zurecht – das Gebet von der Marktwirtschaft aufzusagen. Auf die Frage hin, was das genau bedeuten soll, wird bestenfalls mit dem EU-Emissionshandel und möglichen Innovationen argumentiert. Nur leider passt es vielen in unserer Bubble scheinbar nicht, wenn der Emissionshandel und die Förderung von Innovationen funktionieren. 


Monatelang wurde der Bundeswirtschaftsminister, Robert Habeck, für sein „Heizungsgesetz“ aus Teilen unserer liberalen Familie heraus kritisiert, auch diffamiert. Dabei ging es um ein völlig marktwirtschaftliches Konzept: Neue Heizung? Her damit. Technologie? Egal. Hauptsache, sie wird größtenteils klimaneutral betrieben. Hinzu kommen weitreichende Ausnahmen und Übergangsfristen. 


Stattdessen sollen wir uns anstelle des Gesetzes auf die Innovationen des Marktes verlassen. Einziger Haken: Die Wärmepumpe ist genau diese Innovation. Ihr Wirkungsgrad übertrifft Öl- und Gasheizungen in Straßenschuhen und der Mythos der Notwendigkeit einer kompletten Wärmedämmung hält sich nach wie vor hartnäckig – das stimmt aber in den meisten Fällen nicht. Mit dem Heizungsgesetz werden Klima, Innovation und Eigentum geschützt bzw. gefördert. 


Trotzdem stellen wir das Gesetz, das eine bezahlbare Innovation feiert, als das komplette Gegenteil hin. Das ist es, was die Wählerinnen und Wähler derzeit an uns frustrieren könnte: Wir stehen nicht mehr für den Mut, einen solchen Schritt zu wagen. 


Wir verschieben das Problem in die Zukunft: eFuels, Wasserstoff, Carbon-Capture. Diese Innovationen sind noch nicht marktreift und in Teilen nicht die Lösung. Dabei haben wir mit bezahlbaren Elektroautos, dem Bau von Windparks oder – ich nenne sie noch einmal – Wärmepumpen viele Innovationen, die sich bereits durchgesetzt haben. Man lehnt Innovationen ab, weil es nicht die Innovationen sind, die einem persönlich recht sind. Dann soll man es offen aussprechen: Ich habe nicht den Mut dazu, mein Verhalten trotz der Klimakrise zu ändern. Es ist fatal, wenn wir mit dieser Grundhaltung an politische Entscheidungen herangehen. 


Wenn wir als Liberale wieder die Diskussion darüber zulassen, Risiken in den politischen Entscheidungen einzugehen, können wir wieder aus dem Stand zehn Prozent holen. Dazu müssen wir die Notwendigkeit von großen Veränderungen akzeptieren und die Entschlossenheit zeigen, diese anzupacken.



 


Tim Gottsleben (25) arbeitet als Wissenschaftlicher Referent in Berlin und promoviert in Politikwissenschaft über die Auswirkungen von Chinas „Belt and Road Initiative“ auf Bildung und Forschung. Seit 2018 engagierte er sich in Bayern und NRW bei den Liberalen Hochschulgruppen und ist seit Januar 2023 Mitglied des Bundesvorstandes. 


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